Macabros 033: Flucht in den Geistersumpf
ein heller Fleck, der sich
vergrößerte, je näher sie ihm kam. Die Gewächse
bildeten einen Laubhimmel über ihr, der ganz vorn aufhörte.
Wie ein Tor wirkte das Wegende.
In Wirklichkeit war es ein ganz bestimmter Spiegel im Schlafzimmer
Stukmans. Aber das wußte sie nicht. Der Rennfahrer
betätigte den verborgenen Mechanismus, und der matt schimmernde
Zauberspiegel wurde frei. Lorette Massieu ging genau auf ihn zu, mit
stierem Blick und den Bewegungen eines Roboters. Sie stieg durch den
Spiegel – und kam auf der anderen Seite wieder heraus.
Auch davon wußte sie nichts.
Sie befand sich in ihrem Traumland, in das Stukman sie immer zur
Strafe schickte, und jedesmal waren die Alptraumartigen Ereignisse
schlimmer als zuvor.
In dem Augenblick, als sie ›drüben‹ war, ohne zu
wissen, wo sie sich befand, kehrte ihr Bewußtsein zurück.
Die Droge, die das Vergessen und falsche Bilder gebracht hatte,
verlor augenblicklich ihre Wirkung.
Lorette war wach, und ihr Alptraum begann.
*
Fiebriger Glanz schimmerte in ihren Augen. Lorette Massieu erhob
sich und blickte sich in der fremden, unwirklichen und trostlosen
Umgebung um.
Schreckliche Bäume, die wie bizarre Zwitterwesen aus Tier und
Pflanze anzuschauen waren, umringten sie, und sie hätte sich
nicht gewundert, wenn einer dieser Kolosse sich plötzlich auf
sie zubewegt hätte.
Der Eindruck, daß das jeden Augenblick der Fall sein
könnte, war zu lebhaft.
Ein leises Rauschen lag in der bleiernen, nebelschwangeren Luft.
Es hörte sich an – wie Atmen. Als ob ein unsichtbares,
titanenhaftes Ungetüm einatme… ausatme.
Sie wich zurück und drehte sich langsam im Kreis. Wie kam sie
hierher?
Es gab keine Erklärung für ihre Anwesenheit.
Durch ein geheimnisvolles Tor schien sie von Zeit zu Zeit in eine
andere Welt zu gelangen, ein Tor, das nur Stukman kannte.
Gänsehaut zog über ihren Körper, und in ihrem
Nacken kribbelte es.
Jedesmal war die Landschaft anders, in der sie wach wurde, aber
schrecklich und menschenfeindlich waren sie alle.
Sie hörte ein fernes Gluckern. Es hörte sich an, als
würden riesige Schlammblasen irgendwo aus dem Boden steigen und
zerplatzen. Das Echo kam von weither.
Wie in Trance setzte die Halbfranzösin sich in Bewegung. Der
dunkle, schimmernde Hausanzug, den sie noch immer trug, war an
verschiedenen Stellen aufgerissen.
Lorette dachte an die Auseinandersetzung mit Tony Stukman. Dabei
konnte der Stoff gerissen sein.
Aber da war noch mehr…
Sie entdeckte Schlammspritzer auf ihrer Hose und ihrer Haut.
Lorette Massieu fuhr sich durch die zerzausten Haare. Sie wirkte
matt und kraftlos, und sie hatte das Gefühl, schon seit einer
Ewigkeit unterwegs zu sein.
Wie Fetzen rasten Bilder vor ihrem geistigen Auge
vorüber.
Ein langer Marsch durch eine bedrückende, menschenfeindliche
Umwelt lag hinter ihr. Zeitgefühl war ihr verlorengegangen…
Vergessen war gekommen… sie hatte eben in diesen Sekunden noch
geglaubt, sich gerade erst vom Boden erhoben zu haben. Aber davor
mußte sie schon Stunden um Stunden durch die Gegend geirrt
sein, auf der Suche nach einem Ausweg aus dieser gespenstischen Welt,
in der das Atmen zur Qual wurde.
Sie fühlte sich beobachtet, als würden tausend Augen sie
umringen. Gierige Augen von furchteinflößenden Wesen, die
nur auf einen bestimmten Moment warteten, sich auf sie zu
stürzen und zu verschlingen.
Sie stutzte plötzlich und bückte sich.
Fußspuren!
Sie zeigten in die Richtung, in der auch Lorette sich bewegte.
Fußabdrücke, die von nackten Füßen stammten.
Von zierlichen Füßen…
Den Atem anhaltend, setzte sie ihren rechten Fuß in den
Abdruck.
Es war ein Abdruck ihres eigenen Fußes! Also doch! Demnach
war sie schon mal hier gewesen. Wie lange schon hielt sie sich hier
auf?
Lorette hatte sich nie elender, nie verlassener gefühlt als
in diesem Augenblick, und der Wunsch zu sterben erfüllte
sie.
Es hatte doch alles keinen Sinn mehr!
Sie taumelte zwei, drei Schritte weiter vor, und aus diesen zwei,
drei Schritten wurden schließlich zwanzig, dreißig,
vierzig… sie lief durch den unheimlichen Wald, in der Hoffnung,
irgendwann und irgendwo wieder aus ihm herauszukommen.
Die fleischigen Blätter über ihr bewegten sich wie
selbständige Lebewesen. Ein ständiges Rauschen und Murmeln
lag in der Luft, das manchmal zum Kichern wurde. Und es kam ihr so
vor, als würden die glitschigen Baumriesen sich untereinander
verständigen.
Nebel umwallten sie, geheimnisvolle Schatten
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