Macabros 035: Mirakel, Mann der Geheimnisse
schwach.
Ihr Wille sank in sich zurück wie eine Kerzenflamme die keine
Nahrung mehr fand.
Ihre Umgebung veränderte sich. Sie vernahm ein leises
Rauschen.
Als ob Wellen irgendwo sanft dagegenspülten.
Schwankender Untergrund…
Es waren die Planken eines weißen Schiffes.
Liane Martens trat ihr gegenüber.
»Willkommen – auf der anderen Seite«, sagte die
junge Verkäuferin und streckte ihr die Hand entgegen.
Elisabeth Gesan sah sich irritiert um.
Blau und wolkenlos spannte sich ein fremder Himmel über ihr.
Kaum ein Lüftchen war zu spüren.
»Ich – ich bin gar nicht tot?« fragte Elisabeth
Gesan verwirrt. Sie drehte sich um. Durchscheinende Nebel lösten
sich gerade auf. Dahinter konnte sie ihre Wohnung sehen und den
Körper, der in dem Sessel lag. Das war sie. Das war die
Hülle, die sie verlassen hatte. Dieser Körper regte sich
nicht mehr. Kein Leben erfüllte ihn mehr. Das, was ihn lebendig
machte – der Geist, die Seele – war aus ihm gewichen.
»Es gibt keinen Tod…«
Elisabeth Gesan wandte den Kopf und blickte Liane Martens an.
»Aber warum bin ich hier allein – allein auf dem Schiff
mit dir, Liane? Was für eine Bedeutung hat dieses Schiff? Wo
sind meine Freunde, meine Eltern? Wo ist mein Mann? Meine Tochter?
Warum kann ich sie nicht sehen?«
»Nicht zuviele Fragen auf einmal. Sie gehören hierher
auf dieses Schiff. Es wird uns irgendwohin tragen – das Ziel ist
unwichtig, und wir sind nicht allein, Frau Gesan.«
Es schien, als hätte es nur dieser Worte bedurft.
Lautlos kam jemand die Treppe aus dem Bauch des großen,
lautlos dahingleitenden Schiffes hoch.
Es war ein Mann.
Elisabeth Gesan erkannte ihn sofort. Es handelte sich um den
Kunden, der vor zwei Tagen Zeuge des Verschwindens von Liane Martens
wurde.
Sein Gesicht war ernst und verschlossen. Er machte einen leidenden
Eindruck.
Da begriff auch sie, daß sie hintergangen worden war,
daß sie sich hier überhaupt nicht zurechtfand, daß
niemand ihr Hilfe anbot.
Liane Martens diente den Mächten der Hölle.
*
»Sie öffnet nicht. Da stimmt etwas nicht. Wir brechen
die Tür auf.«
Klaus Harder warf sich dagegen.
Es knirschte.
Der Lärm und das Rufen hallten durch den Korridor des Hauses
und wurden auch von den anderen Bewohnern gehört.
Auf der gleichen Etage öffnete sich die Tür zur
Nachbarwohnung.
Ein Mann mittleren Alters stand auf der Schwelle.
»Was ist denn los hier?« fragte er mürrisch.
»Was machen Sie denn da?«
»Kriminalpolizei«, wies Harder seine Dienstmarke vor.
»Frau Gesan öffnet nicht. Wie haben die Befürchtung,
daß da drin etwas nicht stimmt.«
»Öffnet nicht?« Der Mann wurde sofort
zugänglicher. Die Tatsache, daß die Polizei sich offenbar
mal wirklich um ein Problem kümmerte und nicht nur
Parksündern auf die Finger sah, schien ihm zu imponieren.
»Sie ist zu Hause. Garantiert. Ich habe sie selbst nach Hause
kommen sehen.«
Albert Wittert warf sich mit seinem ganzen Körpergewicht
gegen die Tür. Er hatte ein paar Kilo mehr zur Verfügung
als sein Chef. Das wirkte.
Krachend flog das Schloß aus der Türleiste. Durch den
eigenen Schwung wurde Albert Wittert in den Flur gerissen.
Das Licht im Wohnzimmer brannte.
Die Szene, die sich den Blicken der Beamten bot, war hell
ausgeleuchtet.
Harder und Wittert stürzten auf die alte Dame im
blutverschmierten Unterrock zu.
»Frau Gesan!« Der Kommissar sah gerade noch, wie die
Pupille, der Frau sich ins Unendliche erweiterte. Elisabeth Gesan
atmete zum letzten Mal.
In dieser Sekunde starb sie.
»Zu spät! Wir kommen zu spät. Verdammt noch
mal!« Harder ballte die Fäuste und griff mit einem
Taschentuch nach dem kleinen Messer. »Und wieder das gleiche,
Wittert: ein Messer mit einem Jadegriff! Jemand, der durch Wände
gehen kann, taucht einfach auf und verteilt die Dinger, und die
Auserwählten haben keine Chance mehr, der Forderung zum
Selbstmord noch irgend etwas entgegenzusetzen.
Schauen Sie sich das Gesicht der Toten an, Wittert! Ein
verzückter Ausdruck liegt darauf. Kein Zeichen von Schmerz oder
Angst. Was geht hier vor, Wittert? Ich komme da nicht mehr
mit.«
»Ich auch nicht, Kommissar.«
»Morde aus dem Jenseits, Morde, die als Selbstmorde getarnt
sind – und doch Auskunft darüber geben, daß sie keine
Selbstmorde sein können! Es ist doch seltsam, daß
Elisabeth Gesan die gleiche Todesart und das gleiche Messer benutzt.
Wer hat es ihr gebracht? Oder: wo hat sie es gefunden?
Die Begegnung mit Terry White war eine
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