Macabros 074: Krypta der Regenbogen-Menschen
wird es
Nacht sein, und ich möchte nicht, daß du ganz allein hier
draußen bleibst. Komm doch mit zurück… komm mit ins
Haus!«
Die Worte sprudelten über ihre Lippen, und die Frau wirkte
aufs äußerste erregt.
Da, plötzlich in der Dunkelheit, zeigte sich eine
Gestalt.
Betty Lindon riß die Augen auf, schloß sie wieder und
preßte sie fest zusammen, als wolle sie damit ein
vermeintliches Trugbild verscheuchen.
Als sie die Augen wieder öffnete, war die Gestalt noch immer
da.
Nur einen Schritt von ihr entfernt – sie brauchte lediglich
den Arm auszustrecken – hockte mitten im Gras ein etwa
zwölfjähriges Mädchen mit langen, blonden Zöpfen
und einem luftigen, weißen Sommerkleid, das mit lustigen
Farbtupfern versehen war.
Betty Lindon stand im ersten Moment wie zur Salzsäule
erstarrt. Sie war unfähig, auch nur eine einzige Bewegung zu
machen.
Ihre Augen brannten, als hätte jemand ätzende Säure
hineingeschüttet.
Dann drang wild und schrill der Aufschrei aus ihrer Kehle.
»Goldie!« schrie sie wie von Sinnen und stürzte nach
vorn.
*
Auch in der Nacht kühlten die hohen Tagestemperaturen kaum
ab.
Monique Duval, eine Soziologin, die sich Jack Slatons Expedition
in Manáus angeschlossen hatte, warf sich unruhig von einer
Seite zur anderen.
Die Französin lag auf ihrer Luftmatratze und fand keinen
Schlaf. Sie war nur zugedeckt mit einem hauchdünnen,
weißen Laken, unter dem sie völlig nackt lag.
Die dunkelhaarige, braungebrannte Frau schlug das Laken
zurück und schob es mit ihren langen Beinen auf die Seite.
Einige Minuten lag Monique Duval mit offenen Augen da, starrte zu
dem hellen, beigen Himmel der Zeltplane über ihr, und viele
Gedanken strömten auf sie ein.
Dann wandte sie den Kopf und warf einen Blick auf die andere
Seite, wo hinter einer dünnen, durchscheinenden Stoffwand, ein
zweiter weiblicher Körper lag. Das war Brenda, die aus London
stammte und als medizinische Assistentin in einem Krankenhaus in
Manáus gearbeitet hatte, als Slaton dort seine Truppe traf und
sie sich spontan bereit erklärte, mitzugehen auf die Suche nach
dem unbekannten Eingeborenenstamm.
Brenda schlief. Ruhige, tiefe Atemzüge verkündeten,
daß sie in einen erholsamen Schlaf gefallen war.
Auch Monique Duval bemühte sich noch einige Male verzweifelt,
jene Ruhe zu finden, nach der sie sich so sehnte. Doch eine
unerklärliche Unruhe erfüllte sie, und tausend unwichtige
Dinge gingen ihr durch den Kopf.
Monique Duval richtete sich auf, griff nach dem leichten, weit
schwingenden Leinenkleid, das auf einer Stange hing, und
schlüpfte hinein. Mit flinken Fingern schlang sie den
Gürtel um ihre schlanke Taille, zog dann ihre Schuhe an und
verließ das Zelt.
Sie reckte beide Arme gen Himmel, streckte ihren Körper und
sah vom Zeltausgang aus die dunkle Gestalt vor dem erlöschenden
Feuer am Boden hocken, leicht nach vorn gebeugt.
Das war der Mann, der in den nächsten beiden Stunden Wache
hielt.
Die Tropennacht hüllte alles in eine tiefe, undurchdringliche
Schwärze, in der die Geräusche aus dem Dschungel nie und
nimmer verstummten.
Monique Duval machte nur einen einzigen Schritt. Kaum zu
hören war das Rasseln unter ihren Füßen. Und doch
reagierte der Mann dort vorn sofort.
Er flog förmlich herum und hielt die Waffe im Anschlag.
Im Aufspringen kam ein erleichterter Seufzer über seine
Lippen. »Ach, Monique… Sie sind das…«
Die Französin ging lächelnd auf ihn zu.
»Ist etwas?« sprach der Mann sie an.
»Ich kann nicht schlafen. Das ist alles.«
»Aber nach dem anstrengenden Marsch heute…«
»…geht es trotzdem nicht«, fiel sie dem Mann ins
Wort. »Der Fußmarsch war eine Strapaze, und doch finde ich
keine Ruhe. Ich schlafe minutenweise ein und wache wieder auf. Jetzt
bin ich vollkommen munter, und nichts hält mich im Zelt mehr.
Ich mache einen kleinen Spaziergang ums Lager.«
Der Mann, der ihr gegenüberstand, schüttelte den Kopf.
»Würde ich Ihnen nicht empfehlen, Monique. Jack ist streng
dagegen. Wir müssen damit rechnen, daß wir seit den
frühen Mittagsstunden beobachtet werden. Wir selbst haben
niemand bemerkt, aber müssen davon ausgehen, daß andere
unsere Ankunft in diesem unerforschten Gebiet möglicherweise
sehr genau und aufgeregt konstatierten.«
Die Französin lachte leise. »Ich war sehr aufmerksam,
Walt… aber mir ist nichts aufgefallen. Ich habe unsere Umgebung
genau beobachtet; wenn jemand in der Nähe gewesen wäre,
hätte ich bestimmt etwas
Weitere Kostenlose Bücher