Macabros 076: Ruf ins Vergessen
hatte den Kopf voller Fragen. Doch die mußte er
sich aufheben. Es war zwecklos, Ak Nafuur weiter zu quälen.
Deutlich sah man, daß dieser Mann nicht mehr konnte.
Die Augen fielen ihm zu, sein Gesicht entspannte sich.
Es war ein gutes Gesicht mit markanten Zügen und energischem
Kinn. Die Haut war hell und beinahe durchsichtig, das
schlohweiße Haar rahmte das Antlitz und gab ihm eine vornehme,
aristokratische Prägung.
Gleich darauf verkündeten tiefe, ruhige Atemzüge,
daß Ak Nafuur eingeschlafen war.
Auf Zehenspitzen verließ Björn Hellmark die Hütte
und zog die aus Stroh- und Holzgeflecht bestehende Tür zu.
An ihr gab es keinen Riegel und kein Schloß. Auf Marlos
brauchte niemand seine Wohnung abzuschließen. Hier waren
Freunde unter sich. Da gab es keine Diebe, keinem, dem man
mißtrauen mußte.
Das Blockhaus lag auf einer sanften Anhöhe, die von
blühenden Sträuchern umgeben wurde.
Ein breiter, glatter Pfad führte direkt zum Strand, wo die
Wellen auf dem weißen Sand ausliefen.
Diesen Teil der Bucht säumten hochragende Palmen.
Marlos bot das vielseitige Bild einer Landschaft, in der man sich
wohl fühlen konnte.
Es gab eine Bucht, die felsig war, wo weder Bäume noch
Sträucher wuchsen. An anderen Stellen herrschte der
palmenumsäumte Strand, der weiche, weiße Sand vor, wie man
ihn sonst nirgends fand.
Unten am Strand saß einsam Carminia Brado und nähte
einen Flicken auf Pepes Hose.
Von dem schwarzgelockten Jungen, den sie als Adoptivsohn
angenommen hatte, fehlte jede Spur. Ebenso von Jim, dem Guuf, Rani
Mahay und Arson, dem Mann mit der Silberhaut.
Der Junge aus Yukatàn und Jim, der Kugelkopf, lebten wohl
am längsten hier auf der Insel, die für sie zu einem wahren
Abenteuerland geworden war.
Sie fühlten sich wohl hier, konnten sich frei entfalten und
hatten in Carminia eine geduldige Lehrmeisterin gefunden, der nichts
zu viel war.
»Außer der ewigen Flickerei«, schimpfte die gut
aussehende Brasilianerin, die Björn einst beim Karneval in Rio
kennengelernt hatte. Es schien, als hätte sie Hellmarks Gedanken
gelesen. »Ich möchte bloß wissen, wie er das immer
fertigbringt. Mir kommt’s beinahe so vor, als würde er mit
dem blanken Hosenboden über den felsigen Boden
rutschen…«
Björn lachte. »Bei einem richtigen Jungen zerreißt
nun mal der Hosenboden, Schoko. In dem Alter rutscht man über
Felsen und klettert Bäume hoch, und bei solcher Schwerstarbeit
kann mal ’ne Naht platzen…«
»… ’ne Naht platzen, ist gut«, entgegnete die
kaffeebraune Frau, die Hellmark zärtlich ›Schoko‹
nannte. »Wenn es nur ’ne Naht wäre, ging’s ja
noch. Da fehlen handtellergroße Stücke…«
Björn ging neben ihr in die Hocke. Carminia Brado sah ihn an.
»Wie geht es Ak Nafuur? Gibt es etwas Neues?«
Er nickte. »Eine ganze Menge Neuigkeiten. Und das ist noch
nicht alles. Jetzt schläft er…«
Carminia Brado erhob sich. »Dann werde ich zu ihm gehen,
damit immer jemand in seiner Nähe ist, wenn er wieder erwacht
oder einen Wunsch hat. Solange die anderen außerhalb zu tun
haben, müssen wir beide uns die Wache bei Ak Nafuur teilen.
Arson und Rani sind bei der Krypta…«
Damit hatte es seine besondere Bewandtnis. Was Björn Hellmark
in der Krypta erlebte, beschäftigte ihn noch immer. Er
ließ die Stelle durch seine Freunde immer wieder absuchen, weil
er erwartete, durch konsequente Kontrolle auf eine Fährte zu
stoßen, die ihn noch mal mit der Tier-Mensch-Göttin
zusammenführte, die von regenbogenfarbenen Eingeborenen aus
kaltem Stein beschworen wurde.
Björn nickte. »Das ist eine gute Idee, Schoko. Ja –
bleib in seiner Nähe…«
»Ich bin gleich wieder zurück. Ich mache einen kurzen
Abstecher bei Morell, um ihm etwas mitzuteilen.«
Man sah der Brasilianerin an, daß sie ihn am liebsten
begleitet hätte. Das unruhige Blut, das in Hellmarks Adern
floß, strömte auch in ihren. Sie war eine Frau, die nicht
nur für das leibliche Wohl jener sorgte, für die sie
Verantwortung trug, sie konnte ebenso gut mit Pfeil und Bogen und mit
dem Schwert umgehen. Wie Björn Hellmark, hatte auch Carminia
Brado eine erste Existenz in dieser Welt hinter sich. Als Loana hatte
sie haarsträubende und gefährliche Abenteuer bestanden.
Erst in jüngster Vergangenheit war es ihr gelungen, einen
Teil des Geheimnisses ihrer Vergangenheit wie die Teile eines Mosaiks
zusammenzusetzen. Sie wußte, wie und wo sie starb, und auf
welche Weise der Mann, den sie in diesem Leben nun wieder
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