Macabros 100: Rha-Ta-N'mys Schreckenszentrum
ereignete sich ein brutaler Mord!
Da war die schöne große Frau mit dem roten Haar und dem
Gesicht eines Engels, und Sandra Gerhusen wußte sofort,
daß es sich um das kleine, etwa siebenjährige Mädchen
handelte, das in jener Nacht Zeuge vom Tod des Neugeborenen und der
Mutter geworden war.
Dieses kleine Mädchen war inzwischen etwa zwanzig Jahre
älter geworden und zu einem verführerisch schönen,
vollbusigen Weib herangewachsen.
Aber das konnte nicht sein! Alles in Sandra Gerhusen sträubte
sich gegen eine solche unfaßliche Wirklichkeit.
Es konnten doch keine zwanzig Jahre vergangen sein, seitdem sie
einen Blick in das nächtliche Haus geworfen hatte und das kleine
Mädchen wahrnahm, das sie selbst gewesen war…
Die Schreie hüllten sie ein wie körperliche Wesen, die
sie umringten.
Sandra Gerhusen wußte, daß die Wirklichkeit mit dem
siebenjährigen Mädchen – sich mit der neuen
Wirklichkeit verband. Was hier zwanzig Jahre später geschah, war
ihr vertraut, brach aus ihrer Erinnerung hervor und aus der
Erinnerung eines anderen Lebens.
Sie, Sandra, war die Frau, die in diesem Haus ermordet wurde!
Deshalb also die Angst, sich dem buckligen Haus zu nähern! Sie
wußte nun, was sie davon abgehalten hatte.
Damals – im fünfzehnten Jahrhundert – hatte sie
schon mal gelebt. Und damals war sie in diesem Haus ermordet worden.
Jetzt – in einem anderen Leben, in einer anderen Gestalt –
kehrte sie an den Ort des schrecklichen Ereignisses zurück und
erlebte alles noch mal. Als Opfer und als Beobachterin!
Die rothaarige Schöne taumelte an die Wand und war von
mehreren Messerstichen getroffen, stürzte aber noch nicht zu
Boden.
Und da war die Mörderin! Eine Frau aus dem Dorf.
»Hure!« schrie sie, und ihre sich überschlagende
Stimme mischte sich unter die langsam schwächer werdenden
Schreie der mehrfach Getroffenen. »Diesmal hast du nicht ihn
getroffen, sondern mich. Ich habe dich erwartet, nicht im Bett,
sondern in der schattigen Ecke. Stirb! Für jedesmal, das du mit
ihm geschlafen hast – ein Stich… hier… und
hier…«
Ein gräßliches Lachen folgte den zornig
ausgestoßenen Worten. »Du rothaarige Hexe! Habe ich dich
endlich erwischt?! Du wirst keinen Mann in diesem Dorf mehr
verführen… die Frauen, die du unglücklich gemacht
hast, werden aufatmen…«
Das Messer traf die rothaarige Frau immer wieder. Dann rutschte
sie an der Wand entlang und stürzte zu Boden. Die blutigen
Hände hinterließen lange Streifen an der getünchten
Wand.
Sandra Gerhusen stand da wie gelähmt, war unfähig, auch
nur ein Glied zu rühren und einzugreifen, der Sterbenden zu
Hilfe zu kommen, die sie selbst war. Doch ein Schicksal, in einem
anderen Jahrhundert erlebt, ließ sich nicht mehr
rückgängig machen.
Da waren Schritte zu hören. Hinter ihr. Sie kamen durch den
handtuchschmalen Korridor.
Sandra Gerhusen warf den Kopf herum und sah im nächsten
Moment den Fremden, groß, blond und braungebrannt.
Hinter ihm folgte eine Frau, eine rassige Exotin.
Björn Hellmark sah, was Sandra Gerhusen sah…
Er zögerte keinen Augenblick, stürzte nach vorn und
griff nach der Mörderin, die in einen dunklen Umhang
gehüllt war und sich kaum vom Halbdunkel des kleinen Raumes
abhob.
Da machte der Mann von Marlos eine überraschende Entdeckung.
Seine Hände stießen ins Leere und fuhren durch den Leib
der Mörderin hindurch, die nur ein gespenstischer Schemen
war!
*
Die Frau, die vor der Wand in ihrem Blut lag und sich nicht mehr
rührte, war ebenfalls nicht körperlich!
Sandra Gerhusen taumelte nach vorn.
Was sie gesehen und erlebt hatte, war mehr, als ein Mensch
ertragen konnte. Ihre Erinnerung war aufgewühlt. Sie wußte
alles wieder.
Sie hatte die Männer verrückt gemacht, die Frauen
eifersüchtig. Die ›Rothaarige‹, wie man sie
schließlich nur noch nannte, war die schönste Frau im
Dorf, und die Männer flogen auf sie wie die Motten ins
Licht.
Sandra Gerhusen stöhnte, schlug die Hände vor die Augen
und wußte, wie sie das erste Mal gestorben war.
Sie begriff nicht, wieso sie in diesem Dorf erneut angelangt war,
wieso sie Vergangenheit und Gegenwart erlebte. Die Vergangenheit
hatte die Gegenwart eingeholt.
Daß der fremde blonde Mann, der der Kleidung nach aus ihrer
Zeit stammte, weder die Mörderin noch das Opfer anfassen konnte,
begriff sie, ohne viel von Physik und Metaphysik zu verstehen.
Die Zeiten überlappten sich… die Vergangenheit war wie
ein Hauch, die Körper
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