Macabros 104: Höllenspuk
dehnte der alte Mann das Wort und wandte sich
langsam um. Ein ungutes Gefühl beschlich ihn. Gefahr! »Was
haben Sie mit den Krähen zu tun – und vor
allem…«
Weiter kam er nicht.
Die Worte blieben ihm wie ein Kloß im Hals stecken.
Der Fremde war einen Schritt näher gekommen.
In dem grünen Gespensterschein, der alles umfloß, sah
Monsieur Henri ihn vollends.
Er hatte keinen menschlichen Kopf, sondern den
überdimensionalen Schädel einer Krähe auf den
Schultern!
Die großen, dicht beisammenstehenden Augen glitzerten kalt,
und der dicke, schwarze Schnabel stieß nach vorn.
Monsieur Henri schrie wie am Spieß, als der unheimliche Gast
seinen Kopf ruckartig nach vorn bewegte, und der Schnabel wie ein
Speer seinen Augapfel durchbohrte.
*
Er schrie noch immer, als er sich aufrichtete und
schweißgebadet erkannte, daß er im Bett saß,
niemand in seinem Zimmer sich aufhielt und er die Ereignisse des
zurückliegenden Tages unbewußt im Traum verarbeitete.
Mit zitternder Hand tastete er nach dem Lichtschalter. Die
altmodische Nachttischlampe spendete bernsteinfarbenen Schein.
Monsieur Henris Puls jagte, sein Herz pochte, und nur langsam
beruhigte sich sein Schlag.
Ein Traum! Das Ganze war nur ein Traum!
Der Mann schloß die Augen. Die Anspannung wich sichtlich von
seinem Gesicht, sein Atem wurde ruhiger.
Er ließ fünf Minuten verstreichen. In dieser Zeit
drehten sich die Gedanken in seinem Hirn wie ein Karussell.
Alle Erlebnisse des Tages gingen ihm blitzartig nochmal durch den
Kopf.
Die Begegnung mit dem Inder und seiner hübschen jugendlichen
Begleiterin… der Kleidertausch… das Kostüm, das
draußen an der Tür hing… der Angriff der
Krähen… der Tote im Keller… waren alle diese Dinge
auch nur geträumt?
Erregung packte ihn plötzlich.
Wenn dies alles nur ein Traum war, ’ dann brauchte er sich
keine Sorgen zu machen.
Er wollte es sofort nachprüfen!
Erstaunlich wendig sprang er aus dem Bett.
Elan erfüllte ihn und Hoffnung, daß wirklich alles eine
natürliche Erklärung hatte.
Eine erste seltsame Erkenntnis und Ahnung packte ihn, als er am
verschlossenen, mit einem Laden verdeckten Fenster vorbeikam.
Durch die Ritzen fiel Helligkeit. Tageslicht?!
Zwischen Monsieur Henris Augen entstand eine steile Falte.
War es denn nicht Nacht?
Er riß das Fenster auf, löste die Verhakung und
stieß die beiden Ladenhälften nach außen.
Der Himmel war bewölkt. Reste von Blau zeigten sich zwischen
den Wolken.
Dem Licht nach war es später Nachmittag…
Der Mann kratzte sich im Nacken.
Die Erinnerung kam blitzartig zurück.
Er hatte nach den schrecklichen Ereignissen – den Mord an
einem ihm unbekannten Kunden in seinem Geschäft – den Laden
geschlossen, war voller Entsetzen in sein Schlafzimmer gelaufen,
hatte die Fensterläden geschlossen und sich ins Bett gelegt, um
seine aufgepeitschten Nerven zu beruhigen!
Das lag noch gar nicht so lange zurück.
Er warf einen Blick auf das Zifferblatt seiner Armbanduhr.
Wenige Minuten vor drei… Nicht drei Uhr nachts, sondern drei
Uhr nachmittags!
Einen Augenblick schloß Monsieur Henri die Augen, und die
alte Angst wallte wieder in ihm auf.
Dann gab er sich einen Ruck und versuchte die Flutwelle der
Gedanken und Gefühle zurückzudrängen. Es brauchte
keine Bedeutung zu haben. Es konnte einen anderen Grund haben,
daß er sich hingelegt hatte... Schließlich legte er sich
jeden Mittag hin. Er war nicht mehr der jüngste. Diesmal hatte
er tiefer geschlafen und intensiver geträumt als sonst…
nicht jeder Tag war gleich.
Daß er geträumt hatte, mußte nicht unbedingt
damit zusammenhängen, daß wirklich etwas
Außergewöhnliches geschehen war. Wahrscheinlich war seine
Phantasie durch den Ankauf des Kostüms und die angenehme und
spannende Art des Fremden, zu erzählen, angeregt worden. Dies
wiederum hatte eine Kettenreaktion im Traum ausgelöst.
Nun, gleich würde er mehr wissen...
Er lief die fünf hölzernen Stufen nach unten. Jenseits
der klapprigen Tür lag das Hinterzimmer, in dem so etwas wie ein
Büroraum untergebracht war. Hinter diesem wieder lag das
eigentliche Geschäftslokal.
Im ›Büro‹ gab es nichts Besonders. Alles war
unverändert…
Henri öffnete die Tür, und sein Blick fiel sofort auf
die Glimmerjacke und die violette Seidenhose, die der Inder gebracht
hatte.
Auch hier war alles unverändert.
Die Krähen… unwillkürlich fiel sein Blick auf das
gegenüberliegende Regal, von dem aus die Krähe zu
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