Macabros 104: Höllenspuk
und
Schönheit allein nichts bedeuteten. Sie wußte, daß
diese »Gabe« ihr irgendwann im Leben zum Fluch werden
mußte. Wie würde Rani sich verhalten, wenn er an ihrer
Seite alterte – sie dagegen stets gleich blieb? Das Altern war
ein Gesetz des natürlichen Lebens… Sie konnte aber kein
natürliches Leben mehr führen. Anders wäre es gewesen,
wenn alle, mit denen sie zusammenlebte, gleich geblieben
wären…
Sie merkte, daß ihre Gedanken abwichen. Rani… wer
wußte, ob sie ihn jemals wiedersah!
Madame Fraque hatte sich in ihrer Gier nach Jugend und Leben
»verjüngt«. Wie ein Vampir auf der Suche nach
Blut… Vielleicht hielt sie sich in dieser Stunde gar nicht auf
ihrem Besitz auf, sondern vergnügte sich in der Stadt. Und alles
andere, was hier geschah, vollzog sich automatisch, gespensterhaft.
Das Haus war ein großes Hypnose-Theater, so jedenfalls kam es
ihr mit einem Mal vor…
Es ließ jeden das sehen und fühlen, was für ihn
geeignet war, und dann plötzlich tat sich irgendwo eine
Falltür auf, um den wahrhaft Ahnungslosen wie der Rachen eines
Ungetüms zu verschlingen…
Sie verließ das Hotel.
Die Sonne war indessen weit in Richtung Westen gewandert.
Auf den Pflöcken und rings um den Erdhügel hockten
wieder ein paar Krähen.
Danielles Blicke gingen zum Himmel empor.
Schleier der sich ankündigenden Dämmerung wurden bereits
gewoben. Hinten, am Horizont, zeigten sich drei dunkle Punkte.
Sie kamen näher und wurden zu Vögeln.
Krähen…
Danielle de Barteaulieé schluckte.
Drei Krähen… sie kamen aus Richtung Paris!
Ihr Herz begann schneller zu schlagen.
Sie wich zwei Schritte hinter den schattigen -Eingang zurück,
und ihr Körper verschmolz mit dem Halbdunkel.
Danielle ließ die Krähen nicht mehr aus den Augen.
Instinktiv fühlte sie: Eine von ihnen ist Rani!
Die großen Vögel setzten zur Landung an. Sie
hüpften über das Dach des kleinen Wohnhauses.
Die mittlere der Krähen wirkte irgendwie anders. Verwirrt,
scheu. Sie schien von den anderen bedrängt zu werden und gab
nach.
Dann erhob sich der vorderste Vogel mit schwerem
Flügelschlag.
Es blieb Danielle nichts weiter übrig, als rasch nach
draußen zu gehen und den Kopf weit nach vorn zu strecken, um zu
sehen, wohin sich die Krähen begaben.
Ihr Ziel war das Hoteldach, und darauf der darüber
hinausragende Schornstein.
Die erste Krähe kreiste und ließ sich dann wie ein
Stein in das Kaminloch fallen. Es folgte die zweite, dann die dritte
Krähe.
Dies schien das Signal für die anderen, draußen noch
wartenden zu sein. Es konnte aber auch sein, daß die zunehmende
Dämmerung ihnen die Grenze ihres »Krähendaseins«
ankündigte.
Eine Krähe nach der anderen verließ jetzt ihren
»Beobachtungsplatz«. Und nun sonderten sich die
»unnatürlichen« Vögel von den echten ab. Die
»unnatürlichen« strebten alle einem Ziel zu: dem
Schornstein, mitten auf dem Dach des Hotels. Und darin verschwanden
sie. Der Kamin war der Eingang zum Innern des Hauses…
Aus dieser Erkenntnis zog Danielle de Barteaulieé sofort
ihre Schlüsse.
Sie lief zum Hintereingang des Hotels und mußte daran
denken, daß jene abgedunkelten Räume mit den Altären,
Kerzen und Gemälden für ein Ritual eingerichtet worden
waren. Ein Ritual, das regelmäßig durchgeführt wurde.
Was jetzt geschah, war unter Umständen jener Nacht
vorausgegangen, als die seltsamen Geister aus dem Zwischenreich aus
ihren Zimmern kamen…
Lautlos drückte die junge Französin die Tür ins
Schloß. Dämmerung hüllte sie ein. Auf Zehenspitzen
lief sie zur ersten Tür, lauschte dort und hörte das
raschelnde Geräusch dahinter.
In jedem Zimmer dieses Trakts – gab es einen Kamin! Und der
Altar war genau vor dem Kamin aufgebaut und bestand aus einer
schwarzen Marmorplatte. Darüber hing jenes eigenartige
Gemälde.
Danielle hatte nicht viel Zeit zu überlegen. Sie glaubte zu
begreifen.
Jetzt noch in das Zimmer zu schlüpfen, an dessen Tür sie
lauschte, dazu war es schon zu spät. Sie wäre von der
heimkehrenden »Krähe« dabei beobachtet worden.
Aber ein Zimmer weiter hinten war es vielleicht möglich.
Sie rannte, als ginge es um ihr Leben. Wenn die Krähen eine
bestimmte Rangordnung erhielten, dann würde dies bedeuten,
daß im hintersten Zimmer auch dessen Bewohner zuletzt eintraf.
In diesem Fall würde sie zwar nicht mitbekommen, was in der
Zwischenzeit mit dem verzauberten Mahay geschah. Doch diese
Ungewißheit mußte sie in Kauf nehmen.
Danielles Rechnung
Weitere Kostenlose Bücher