Macabros 117: Amoklauf der Verlorenen
das, was sie mit eigenen Augen sah und mit Händen
greifen konnte.
Sie war nicht verrückt!
Oder – vielleicht doch? Konnte es wirklich so etwas geben,
daß ein Mensch einem anderen die Lebenskraft aussog wie ein
Vampir das Blut seines Opfers?
Es war der Tonfall in Jeans Stimme, der sie veranlaßte, kurz
stehenzubleiben und einen Blick zum Haus zurückzuwerfen.
Tatsächlich!
In der Nähe des Gatters, ganz hinten, sah sie zwei Menschen.
Ihre Schwägerin und ihren Schwager.
Sie waren nicht tot!
Aber – sie waren alt und kraftlos und konnten sich vor
Schwäche kaum auf den Beinen halten.
Und – Jean!
Amelie Dupont erbleichte, preßte die geballte Faust an den
Mund und biß darauf, um nicht laut schreien zu müssen.
Jeans Lauf war bedeutend langsamer geworden. Er schleppte sich mit
roboterhaften Bewegungen auf der staubigen Straße
vorwärts.
Er streckt zitternd die Arme nach ihr aus.
»Amelie!« sagte er mit kraftloser Stimme.
»Bleib’ doch stehen… hilf mir!«
Sie starrte in sein runzliger werdendes Gesicht. Es wurde braun,
pergamentartig, die Haut spannte sich dünn über die
Knochen, die Wangen fielen ein, die Augen glühten wie
Kohlen…
Jean Dumont, einundvierzig Jahre alt, wurde zusehends zu einem
Greis.
Er röchelte, taumelte wie ein Betrunkener und sah in der
Kleidung, die ihm um die Glieder schlotterte, einer wandelnden Leiche
ähnlicher als einem lebenden Menschen.
Amelie Dupont stöhnte. Erschrecken spiegelte sich in ihren
glanzlosen Augen.
Ein Zombie!
Ihre Leidenschaft waren Illustrierte und Sensationsmagazine, die
Jean ihr mal in der Woche aus Silfiac mitbrachte, wenn er dorthin
fuhr, um die landwirtschaftlichen Produkte an einen
Großhändler zu verkaufen, mit dem er einen Abnahmevertrag
geschlossen hatte.
Sensationsmeldungen aus aller Welt - das war Amelie Duponts
Leidenschaft. Und so hatte sie von Dingen erfahren, die normalerweise
in ihrer kleinen überschaubaren Welt keinen Platz hatten.
In fernen Ländern – zum Beispiel auf Haiti – war
der Zombie-Glaube weit verbreitet. Menschen, die als lebende Leiche
wandelten, fielen andere an, um sie zu dem zu machen, das sie selbst
waren.
Manchmal, so hatte sie schon gelesen, verschwanden Touristen, die
sich allzu neugierig für diese Dinge interessiert hatten. Man
hörte nie wieder von ihnen. Kein Mensch erfuhr je, was aus ihnen
geworden war…
Jean war einem lebenden Toten begegnet und hatte die Seuche ins
Haus geschleppt.
Nun brannte in ihm die Gier nach dem verlorenen Leben. Amelie war
noch voller Energie. Er spürte sie, wollte sie sich holen –
wie er sie aus den Körpern seiner Schwester und seines Bruders
geholt hatte.
Jean war als alter Mann vom Feld zurückgekommen.
Dort mußte sich die grauenhafte Begegnung abgespielt
haben.
Er war als lebende Leiche ins Haus zurückgekehrt und hatte
dort die Menschen angefallen, die völlig ahnungslos waren. Er
saugte die Kraft in sich ein und wurde kurzfristig wieder zu den
Mann, der er wirklich war. Und verlor die Lebenskraft dann
wieder.
Wie das zusammenhing, begriff sie nicht. Aber der Vorgang als
solcher war ihr durch eigenes Erleben drastisch vor Augen
geführt worden.
Sie sah im Hintergrund die wankenden Gestalten, nur etwa zwanzig
Meter von sich entfernt ihren vergreisten Mann, der ihr den Tod
bringen wollte.
Da lief sie weiter.
Sie bekam Seitenstechen, die Luft wurde ihr knapp, und sie merkte,
daß sie langsamer wurde.
Blobb-Blobb, der anfangs auf einem Baum hockte und nun einige
Meter über der Taumelnden schwebte, konnte sich auf das alles
noch keinen Reim machen. Er kannte den Hintergrund nicht…
So beobachtete er weiter.
Die Frau lief schließlich nicht mehr, sondern wankte nur
noch vorwärts. Ihr Kräfte ließen nach.
Der alte Mann hinter ihr war ebenfalls sehr schwach, aber seine
Schwäche blieb konstant und nahm nicht zu.
So war es nur noch eine Frage der Zeit, bis die Frau zusammenbrach
und dem Verfolger in die Hände fiel.
Blobb-Blobb glitt auf den nächsten Baum zu.
Der kleine Bursche von Marlos war darauf eingerichtet, der Frau zu
Hilfe zu eilen, wenn ihre Situation sich drastisch verschlechtern
sollte.
Aber ihre Lage schien sich sogar zu verbessern.
In der Abenddämmerung, die sich über das einsame Land
der Bretagne senkte, waren die Abblendlichter eines Fahrzeuges zu
sehen, das nur wenige hundert Meter von Amelie Dupont entfernt am
linken Straßenrand parkte.
Die Bäuerin schöpfte neue Hoffnung.
Hilfe war näher, als sie in ihren kühnsten
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