Macabros 119: Flieh, wenn der Schattenmann kommt
seinen
Vorstellungen entsprach, heiratete er die hübsche Wirtstochter
Evelyne und teilte mit ihr das Zwölfzimmerhaus.
Das lag fünfzig Jahre zurück.
Als einzige Tochter wurde Mary-Anne Kelling geboren. Sie liebte
das alte Haus. Es steckte voller antiker Gegenstände, die ihr
Vater - ein leidenschaftlicher Sammler von diesen Dingen – im
Lauf seines Lebens zusammengetragen hatte.
Mary-Anne Kelling hing an jedem einzelnen Stück und an den
Erinnerungen, die dieses Haus barg, in dem sie eine glückliche
Jugend verbracht hatte.
Das weiße Haus mit den grünen Läden hatte
längst an Glanz und Schönheit verloren.
Mary-Anne Kelling lebte allein, war jetzt vierundfünfzig,
hatte nie geheiratet und war etwas verschroben. In der Nachbarschaft,
hielt man sie für sonderlich und geizig.
Sie empfing keine Freunde und Bekannten, denn sie hatte keine.
Früher hatte es mal welche gegeben, doch Mary-Anne Kelling hatte
sie alle hinausgeekelt.
Sie lebte still und zurückgezogen in ihrem Haus, das immer
unansehnlicher wurde und langsam zerfiel. Die einstmals weiße
Fassade war schmutziggrau, und überall bröckelte der
Verputz ab, die grünen Fensterläden waren von Sonne und
Regen verwittert, morsch und hingen schief in den rostigen
Verankerungen.
Mary-Anne Kelling hatte, so munkelte man, Möbel und
Antiquitäten im Wert von einer Million in ihren Räumen.
Aber sie verkaufte kein einziges Stück. Sie lebte in
ärmlichsten Verhältnissen. Einmal in der Woche konnte man
sie sehen, wenn auf dem Platz zwischen den alten Häusern ein
Obsthändler kam, der unter freiem Himmel seine Waren anbot.
Mary-Anne Kelling tauchte immer dann auf, wenn alle anderen Kunden
aus der Nachbarschaft schon eingekauft hatten. Aber sie kam nicht, um
etwas zu kaufen - sie kam, um die Reste einzusacken, die übrig
geblieben waren.
Bohnen und Karotten, die von der Waage gefallen waren und unter
primitiven Holztischen lagen, klaubte sie auf und stopfte sie in ihre
Tasche. Obst und Gemüse, das auf den Boden gefallen war und
später zusammengekehrt und weggeworden würde, trug sie nach
Hause und lebte eine ganze Woche davon.
Sie war eine zähe, hagere Frau, die rund fünfzehn Jahre
älter wirkte. Sie machte sich nichts aus ihrem Äußern
und wirkte verbittert. Je länger sie allein lebte, desto
menschenscheuer war sie geworden und schien den Kontakt zu anderen
vollkommen verloren zu haben.
Sie teilte ihre Einsamkeit mit einer schwarzen, altersschwachen
Katze. Ein fetter, träger Kater, der stundenlang auf der
Fensterbank lag und nicht mal mehr mit den Augen zwinkerte, wenn ein
Sperling direkt vor ihm herumhüpfte und in den breiten Fugen
zwischen den Steinen pickte.
Der Kater war Mrs. Kellings Lebensgefährte und Liebling. Was
sie sich versagte – dem fetten Tom, wie sie ihn rief, steckte
sie die teuersten Leckerbissen zu. Er bekam frische Milch, die besten
Innereien vom Rind und auserlesene Menüs, die in Dosen angeboten
wurden.
Mary-Anne Kelling hatte immer die Fenster geschlossen, sommers wie
winters.
Die Vorhänge waren stets zugezogen, so daß kein
Vorübergehender durch die niedrigen kleinen Fenster einen Blick
ins Innere werfen konnte.
Selten auch nur brannte Licht. Und wenn – dann nur Kerzen
oder eine Petroleumlampe, weil Mary-Anne Kelling am elektrischen
Strom sparte.
Die Frau mit dem strähnigen grauen Haar und der dunklen
Kleidung lebte in ihrer kleinen Welt, in die sie niemand
einließ.
Sie las viel, hörte von früh bis spät Musik. Sie
besaß einen alten Radioapparat und ein vorsintflutliches
Grammophon aus den dreißiger Jahren. Darauf spielte sie uralte
Platten ab, die ihr Vater noch zu hören pflegte.
Lieder, gesungen von Enrico Caruso und Benjamino Gigli schallten
ebenso durch die düstere Wohnung wie die rauhe, krächzende
Stimme eines Louis Armstrong.
Im Hausinnern hatte sich in den letzten fünfzig Jahren nichts
verändert. Es schien, als wolle die skurrile Mrs. Kelling die
Zeit von damals festhalten, als weigere sie sich, die Gegenwart und
die Zukunft anzunehmen.
Mary-Anne Kelling war glücklich mit dem Leben, das sie
führte und mit niemand teilen wollte.
Bis in die Nachtstunden saß sie in dem dunklen Wohnzimmer,
lehnte in dem hohen weichen Lehnsessel und träumte vor sich hin.
Von vergangenen Zeiten…
Die Tür zum Wohnzimmer stand offen. Im Halbdunkeln, das durch
die nahe Straßenlaterne verursacht wurde, waren die Umrisse des
Korridors und der steil nach oben führenden Holztreppe zu
erkennen. Die Räume
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