Macabros 124: Drudan, der Mysterienmacher
ganz
deutlich wieder in sich zu hören.
»Ich muß sie holen!«
»Nein, Carminia, das geht nicht…« Ihr Vater war ein
großer, kräftiger Mann mit blauschwarzem Haar und dickem
Lippenbart, um den seine Freunde ihn beneideten.
»Aber meine Puppe wird ertrinken! Wenn der Keller voll Wasser
ist… Maria liegt in der großen alten Kiste… sie ist
dort noch eingesperrt.«
»Ich werde deine Maria holen, sobald es möglich ist,
gefahrlos das Haus zu betreten… bueno?«
Wenn Vater einen Satz mit seinem obligaten »Bueno«
beendete, dann duldete das keinen Widerspruch mehr.
Doch an diesem Tag überschritt das kleine Mädchen dieses
ungeschriebene Gesetz.
An jedes Wort von damals konnte sie sich erinnern. Nie zuvor hatte
sie die Klarheit ihrer Gedanken intensiver empfunden als hier auf
dieser geistigen Ebene.
»So lange können wir aber nicht warten, Papa! Wenn das
Wasser so hoch steht, wird es auch in die Kiste eindringen…
Maria ist in Lebensgefahr, sie wird sterben.«
»Carminia! Puppen leben nicht und deshalb können sie
auch nicht ertrinken.«
»Maria ist eine besondere Puppe. Sie lebt. Sie spricht immer
mit mir.«
»Du sprichst mit ihr…«
»Nein, sie mit mir!«
Der Vater verdrehte die Augen und nahm das Mädchen auf den
Arm, das sich die Tränen aus den Augen wischte.
»Maria, Papa… wird mir sehr böse sein…,
daß ich sie allein… in der großen, dunklen Kiste der
Zauberin zurückgelassen habe.«
»Die alte Frau, die dort drüben einst gewohnt hat, war
keine Zauberin.«
»Aber die Leute erzählen es.«
»Man darf nicht alles glauben, was andere Leute
erzählen. Sie war eine liebe Frau und hat den Kranken geholfen.
Sie kannte viele heilende Kräuter, die sie gesammelt und
zubereitet hat und die in ihrem Garten wuchsen.«
Carminia ließ nicht locker, und so erklärte ihr Vater
sich bereit, die Puppe zu holen.
Der Regen hatte längst aufgehört, die Sonne stand an
einem strahlend blauen und wolkenlosen Himmel, und die Menschen auf
der Straße waren noch damit beschäftigt, die Spuren des
Unwetters zu beseitigen.
Überall standen Feuerwehrautos und pumpten die vollgelaufenen
Keller leer. Frauen und Männer hatten sich mit Besen bewaffnet
und schoben das Wasser von den Haustüren weg in die Gullys, in
denen die braune Brühe gluckernd verschwand.
Die Sonne schien warm, die Kinder tollten auf der Straße
herum und rannten durch die riesigen Pfützen, so daß das
Wasser nach allen Seiten spritzte. Für die Kleinen war das Ganze
schöner als das Treiben auf dem Rummelplatz. Die ersten Stunden
nach dem Unwetter waren für die Kinder in der Umgebung wie ein
Volksfest.
Carminia durfte ihren Vater bis zum Ende der Straße
begleiten.
Vor dem Haus dann mußte sie warten.
»Ich bin gleich zurück. Und das nächste Mal,
Baby«, er nannte sie immer »Baby«, obwohl sie schon so
groß war, »läßt du Maria nicht im Stich,
bueno?«
»Bueno, Papa, das verspreche ich dir.«
Sie beobachtete ihren Vater, wie er die steile Kellertreppe
hinunterging.
Er trug Gummistiefel, die ihm bis zu den Oberschenkeln
reichten.
Fünf Minuten blieb er fort. Dann tauchte er wieder auf.
Seine Hände waren leer.
»Wo ist Maria, Papa?«
»Sie war nicht in der Kiste, Carminia.«
»Doch, bestimmt. Sie muß drin liegen.«
»Die Kiste war leer.«
»Dann hat das Wasser sie herausgespült, Papa.«
»Nein. Die Kiste war vollkommen trocken.«
An diesem Abend gab’s wegen der auf mysteriöse Weise
verschwundenen Lieblingspuppe noch viele Tränen.
Maria war verschwunden, und niemand wußte, wo sie
hingekommen sein konnte.
Die anderen Puppen in Carminias Besitz wurden über den
Vorfall unterrichtet und mußten an diesem Abend mit ihr
trauern.
Maria tauchte nie wieder auf, obwohl später die ganze Familie
das verrufene Haus noch mal durchkämmte. Die Puppe schien sich
in Luft aufgelöst zu haben.
Und nun – mehr als zwei Jahrzehnte später –
stieß Carminia wieder unter seltsamen Umständen auf die
einst verlorengegangene Puppe.
Sie fühlte den kleinen Körper, ertastete sein Beben.
Dieses Verhalten, fiel es ihr siedendheiß ein, hatte sie
sich in den ersten Tagen lebhaft vorgestellt. So hatte sie in ihrer
kindlichen Phantasie die Lieblingspuppe Maria gesehen. Einsam und
weinend…
Wie war es möglich, daß sie die Puppe jetzt hier unter
diesen Vorzeichen wiedersah?
»Hier… ist alles möglich.«
Die fremde Stimme ertönte in ihr, andere Gedanken, die in sie
einflossen und als Stimme erkennbar wurden.
Es war eine
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