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Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Mach mal Feuer, Kleine - Roman

Titel: Mach mal Feuer, Kleine - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Smaus
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in den Park, und dort, unter den alten Bäumen, überfiel sie die
chandra
, die östliche, melancholische Sehnsucht, und manchmal sangen sie, einer stimmte ein Lied an, ein anderer fiel mit zweiter Stimme ein, und der Nächste intonierte sauber die dritte Stimme, zu guter Letzt brachen sie wie kleine Kinder in Tränen aus.
    Leute, die im Park mit ihren Hunden Gassi gingen, verlangsamten |72| den Schritt, um mit halbem Ohr zuhören zu können, kleine Kinder fühlten sich von einer sonderbaren, betörenden Kraft zu den Dunkas hingezogen, sie waren wie verhext und mussten geradezu weggezerrt werden.
    Das alte Haus in Žižkov fiel allmählich in sich zusammen. Keiner reparierte die ausgebrochene Klinke, keiner spülte den verstopften Ausguss frei, keiner putzte die Toiletten oder brachte eingeschlagene Fenster zum Glaser, keiner räumte den abgefallenen Putz oder die Brocken vom Sims beiseite. Die Toilettentüren auf den Pawlatschen, das Holzgeländer und die Treppe zum Dachboden wurden verfeuert, man hatte die Dielen aus dem Fußboden herausgerissen und sie klein gehackt, Holz war in Prag schwer aufzutreiben, und Kälte war schlimm, schlimmer als der Tod   … Wenn Essen gekocht werden sollte, stellten die Frauen den Ofen nach draußen, es störte sie nicht, dass sich der Hof mit Rauch füllte und auf den Pawlatschen frisch gewaschene Wäsche hing. Alles, was die Dunkas auf der Straße oder in den Nachbarhöfen fanden und was nicht niet- und nagelfest war, wurde ins Haus gebracht, der Innenhof und die Pawlatschen füllten sich mit vergammelten Matratzen, mit Parkbänken, Rollen von rostigem Drahtzaun und Schläuchen von abgemantelter Kabelisolierung, mit abgerissenen Mülltonnendeckeln und leeren Pappkartons, auch ein paar Fahrräder standen da, nicht geklaut, nur geliehen. Das Glanzstück war ein Autowrack mit halb losgerissenen Türen, nicht mal die Dunkas wussten, wie es hierhergeraten war. Auf das ganze Tohuwabohu im Innenhof regnete und schneite es, die Kinder gingen zum Spielen, Pinkeln und Zündeln dorthin, die Frauen kippten direkt von der Pawlatsche den Hausmüll hinunter, weil die Mülltonnen so weit weg standen, man hätte bis auf die Straße gehen müssen.
    |73| Das Pflaster aus Granitsteinen, an die Schreie der Scherenschleifer und die Klänge des Akkordeons oder des Leierkastens gewöhnt   – die Mieter warfen den Musikern das Kleingeld von der Pawlatsche aus zu, manchmal als Dankeschön, manchmal aber auch, damit sich der Musikus mit seinem krakeelenden Kasten schleunigst ein paar Häuser weiter trollte   – dieses hundertjährige Kopfsteinpflaster war unter der gärenden Müllschicht, aus der Brennnesseln wuchsen, kaum noch zu erkennen. Aus der löchrigen Dachtraufe reckten sich junge Birken der Sonne entgegen, jede Nacht gingen eine weitere Tür oder ein Fenster verloren, und der Innenhof wie das gesamte Haus schienen rücklings in die Vergangenheit hineinzustolpern, als kehrte die ursprüngliche Wildnis zurück, als holte sie sich das zurück, was ihr vor Jahrhunderten von den Menschen und ihrer Stadt entrissen worden war.
     
    Die Gadsche machten einen Bogen um das Haus, sie liefen vorsichtiger an ihm vorbei als an einem Verkehrspolizisten, und auf dem Ortsamt stellten die Damen jedes Mal gerne einen Auszahlungsschein für die Dunkas aus, nur um für ein paar Tage Ruhe vor ihnen zu haben.
    Aber selbst wenn die Dunkas durchdrehten und mit dem Messer aufeinander losgingen, blieb doch jede Fehde unter ihnen. Einem Gadsche etwas anzutun, einem Weißen, das hätten sie sich nicht gestattet. Die hauchdünne Grenze, die sie von den Gadsche trennte und die nicht überschritten werden durfte, die sahen und fühlten sie ganz genau, sie hatten Achtung vor ihr, vielleicht weil ihre Rücken immer noch gut die Hiebe spüren konnten, die sie in Poljana für die geklauten Kohlköpfe oder Kartoffeln eingesteckt hatten. Was frei auf der Weide lief oder auf dem Feld wuchs, das gehörte niemandem und zugleich allen, es war wie Luft und Wasser, |74| die Gott der Herr für alle gesegnet hatte   … und wurden die Dunkas mal mit einem Sack Mais oder Kartoffeln erwischt, da schimpften sie, die Gadsche wären selber schuld, sie sollten besser auf ihre Kartoffeln aufpassen. Aber was die Poljaner hinter Schloss und Riegel hielten, das war den Dunkas heilig. In ein Haus oder ein Auto einzubrechen oder gar einen Menschen zu überfallen, das lag außerhalb ihrer Vorstellungskraft, dafür gab es Gesetze, und hinter denen

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