Mach mich nicht an
von seinem Vater als Idiot bezeichnet, während seine Mutter sich erleichtert darüber äußerte, dass in ihrem keimfreien Heim nun kein Aquarium mehr gesäubert werden musste. Über die Gefühle ihres Sohnes zerbrachen sich beide nicht den Kopf.
Das war zwar nicht die erste schmerzhafte Erfahrung mit seiner Leseschwäche gewesen, aber mit Abstand die einprägsamste. Die dabei gewonnene Erkenntnis bestimmte noch heute sein Leben: Lass niemanden an dich heran und übernimm für nichts und niemanden Verantwortung, außer für dich selbst.
Annabelle konnte das alles natürlich nicht ahnen. »Fische sind doch nichts im Vergleich zu einem richtigen, pelzigen Haustier, das wirklich Gefühle in einem weckt«, sagte sie mit einer abschätzigen Handbewegung.
Vaughn nahm ihr die Bemerkung nicht weiter übel, wunderte sich jedoch einmal mehr über die Gegensätze, die diese Frau in sich vereinte - einerseits war sie warmherzig und liebevoll und überschüttete ihre Haustiere förmlich mit Zuneigung, andererseits mimte sie die Supertussi in Stilettos und Minirock. Nicht sehr passend für eine Baustelle. Hoffentlich hatte sie wenigstens Turnschuhe im Gepäck.
»Hör zu.« Annabelle fixierte ihn nachdrücklich. »Die beiden werden dir nicht weiter zur Last fallen. In den meisten Hotels ist es kein Problem, wenn man ein Haustier mitbringt.«
Das holte ihn abrupt in die Realität zurück. »Was für ein Hotel?« Er lachte auf.
»Dann nehme ich eben ein Motel.«
Er schüttelte den Kopf.
»Eine Frühstückspension?«, fragte sie hoffnungsvoll.
»Tja, meine Liebe, glaubst du etwa, ich würde ein Gästehaus in Greenlawn errichten, wenn es nicht akuten Bedarf dafür gäbe?«
Sie zuckte die Schultern. »Ich habe den Auftrag eben erst erhalten und hatte noch keine Gelegenheit, mich einzulesen. Aber das kommt noch.« Sie tätschelte den Laptop, den er eben auf ihrem Koffer abgestellt hatte, und streifte dabei seine Hand.
Die kurze Berührung wirkte wie ein Elektroschock und brachte ihn für einen Moment aus dem Gleichgewicht. Sie musste es ebenfalls gespürt haben, denn sie schnappte hörbar nach Luft und zog sofort ihre Hand zurück.
Vaughn suchte nach Worten. Wo waren sie stehen geblieben? Ach ja, Hotels, Motels, Pensionen. Die Diskussion ihrer Unterkunft bot nicht gerade das ideale Sicherheitsnetz. Yank hatte sie anscheinend noch nicht in alle Details eingeweiht.
Vaughn vertrat die Auffassung, dass man die Wahrheit am besten eiskalt und beinhart präsentierte. »Es gibt auch keine Frühstückspension weit und breit. Das nächste Hotel liegt gut vierzig Minuten entfernt. Du wirst bei mir wohnen.«
Sie zog misstrauisch eine schmale, makellos gezupfte Augenbraue hoch.
Er konnte sich vorstellen, was sie jetzt dachte. »Keine Sorge, das ist keine Anmache. Ich schwör‘s«, beteuerte er. Oder waren das etwa seine eigenen voreiligen Gedanken, die er hier dementierte? Schließlich sah er sie vor seinem geistigen Auge bereits in seinem Kingsize-Bett, die Laken um sie zerwühlt von leidenschaftlicher gemeinsamer körperlicher Betätigung.
»Ganz sicher? Ich weiß nämlich, wie es ist, wenn es zwischen zwei Menschen knistert, und das ist bei uns beiden offensichtlich der Fall.«
Er unterdrückte ein Stöhnen und sah ihr fest in die Augen. »Keine Sorge, ich kann mich sehr gut beherrschen.« Er knallte den Kofferraumdeckel zu.
»Ich wollte ja nur gleich reinen Tisch machen«, murrte sie, eine Spur gekränkt.
Tja, es war bei Gott nicht so, als würde er sie nicht begehren oder zumindest attraktiv finden; ganz im Gegenteil. Aber er scheute davor zurück, seinem Instinkt nachzugeben - erstens hielt er große Stücke auf ihren Onkel, zweitens wollte er auf keinen Fall ihre Gefühle verletzen.
Als Wiedergutmachung für die Beleidigung hielt er ihr galant die Beifahrertür auf.
»Ich werde also bei dir wohnen und soll deiner Ansicht nach um keinen Preis auffallen. Und wie erklären wir den Leuten vor Ort meine Anwesenheit?«, erkundigte sie sich.
Gestern Nachmittag waren sie diesbezüglich auf keinen grünen Zweig gekommen. Er hatte sich die ganze Nacht im Bett hin und her gewälzt und darüber nachgedacht. Die schöne Blondine und ihr betörender Duft wollten ihm nicht mehr aus dem Kopf gehen.
Er berichtete ihr von der Strategie, die er sich zurechtgelegt hatte: »Wir behaupten einfach, du wärst eine alte College-Bekannte und hättest Erfahrung im Bereich Hotelmanagement. Ich weihe dich kurz in die Probleme ein, und bevor
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