Mach mich nicht an
ließ Hoffnung für sein Projekt in ihr aufkeimen.
»Keine Sorge, Roy, dieser kleine Ausrutscher bleibt unter uns«, versprach sie auf dem Weg nach draußen.
Dort setzte sie Boris ab, der sogleich losspurtete, um eine Grünfläche auf der gegenüberliegenden Straßenseite zu inspizieren. Annabelle ging ihre Begegnung mit Joanne, Roy und seinen Kollegen im Geiste noch einmal durch. Vaughn wurde von allen geschätzt, und nicht zu Unrecht, wie es schien. Seinem Ruf als Casanova zum Trotz musste sie zugeben, dass auch sie ihn zunehmend bewunderte.
Vor Vaughns Haus angekommen beschloss Boris, dass er hier endlich das ideale Plätzchen gefunden hatte, um sein Geschäft zu verrichten und kauerte sich ins Gras.
Natürlich ging ausgerechnet in dem Augenblick, als er im Vorgarten zugange war, die Haustür auf und der Gastgeber höchstpersönlich trat heraus.
Er trug eine schwarze Laufhose und ein graues Shirt, das an den Ärmeln ausfranste. Trotz - oder gerade wegen - seiner Bartstoppeln wirkte er umwerfend sexy.
»Kann er das nicht anderswo erledigen?«, murrte Vaughn, als er die Treppe herunterkam.
Annabelle zwang sich, gelangweilt mit der Schulter zu zucken. »Tja, er bestimmt, wann und wo, so wie alle Männer.«
Vaughn betrachtete das Hündchen, das jetzt mit den Hinterläufen im Rasen scharrte und Grasbüschel durch die Luft fliegen ließ. Annabelle unterdrückte ein Stöhnen.
»Apropos Männer: Ich dachte, Rüden heben das Bein, um ihr Territorium zu markieren?«, bemerkte Vaughn.
»Vielleicht betrachtet er dieses Haus ja nicht als sein Territorium. Immerhin wurde er hier nicht gerade mit offenen Armen aufgenommen.«
»Und zwar ganz bewusst. Aber versuch nicht, mir weiszumachen, dass er so schlau ist und sich deshalb hinkauert, anstatt beim Pinkeln das Bein zu heben.« Er lachte, sehr zu ihrer Überraschung.
»Ob du‘s glaubst oder nicht - im Tierheim hat er in der Anwesenheit der anderen Rüden sehr wohl das Bein gehoben. Das soll einer verstehen. Vielleicht hat er eben nur hin und wieder das Bedürfnis, den starken Mann zu markieren.« Sie schüttelte den Kopf, verwundert über das rätselhafte Benehmen des Tieres.
»Ah, ja, Imponiergehabe«, sagte Vaughn. »Damit kenne ich mich aus.« Er beugte sich zu Boris hinunter und tätschelte dem Hündchen mit seiner Pranke den kleinen Kopf - vielleicht etwas kräftiger, als es Annabelle für nötig hielt, aber sie wollte diese unerwartete Sympathiebezeugung auf keinen Fall unterbrechen.
Die Tatsache, dass Vaughn sich Boris gegenüber zur Abwechslung um Freundlichkeit bemühte, warf ein völlig neues Licht auf ihn, zumal er diese Seite an sich zunächst hatte verbergen wollen. Wahrscheinlich ging ihm diese spontane Zurschaustellung von Gefühlen im gleichen Maße gegen den Strich wie Annabelle die Erkenntnis, dass sie ihn mochte - denn das tat sie.
Ohne Vorwarnung hielt er plötzlich inne, die Hand in der Luft, und sah zu ihr hoch. Ihre Blicke kreuzten sich. Sie hätte sich bei ihm am liebsten bedankt, denn er hatte ihr ohne es zu wollen gerade einen Einblick in sein Herz gewährt.
»Brandon!« Eine schrille Stimme zerriss die angenehme morgendliche Stille und setzte dem Augenblick der Nähe ein abruptes Ende.
Er erhob sich, trat einen Schritt zurück, straffte die Schultern und verkroch sich augenblicklich in sein Schneckenhaus. Annabelle hatte das Gefühl, zusehen zu können, wie er eine Mauer um sich errichtete. Was mochte diesen plötzlichen Stimmungsumschwung wohl verursacht haben?
»Hallo, Estelle«, sagte er abweisend, wieder ganz der Exsportler, mit dem nicht zu spaßen war.
Annabelle betrachtete die Frau aus zusammengekniffenen Augen. Wer war sie, und warum verwandelte sich Brandon Vaughn in ihrer Anwesenheit in ein gefühlloses Ekel?
»Das ist doch keine Art, seine Mutter zu begrüßen, schon gar nicht im Beisein von Fremden«, gab die Frau entrüstet zurück. Aha.
Annabelle starrte die makellose Erscheinung an: tadellos gebügelter Hosenanzug, Stöckelschuhe, dazu ein Strickjäckchen aus Kaschmirwolle, das verdächtig nach St. John‘s aussah. Damit kannte sie sich aus - im Büro trugen sie und Sophie auch Klamotten von Nobeldesignern. Von allein wäre sie allerdings nie auf die Idee gekommen, diese elegante Lady könnte Vaughns Mutter sein; dafür wirkte sie viel zu perfekt, zu streng, zu konservativ. Man musste wahrlich kein Genie sein, um zu erraten, dass Mutter und Sohn herzlich wenig gemeinsam hatten, weder äußerlich noch sonstwie.
Warum
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