Machiavelli: oder Die Kunst der Macht (German Edition)
dauerhaft, und ich denke an einen Frieden, der ein paar Jahre, doch nicht für immer hält.[ 69 ]
Vorhersagbar sind laut Vettori nur die Grundmuster der Geschichte. Diese lassen zahllose Varianten im Einzelnen zu. Eine Konstante ist der Beutetrieb der Eidgenossen. Diese wollen sich durch Raubzüge bereichern, aber kein Imperium bilden. Mit diesem Instinkt stehen sie auf der Ebene des einfachen Volkes, das sich am Besitz der Reichen gütlich tun möchte. Doch damit ist noch nicht erkennbar, wo die Schweizer in Zukunft ihren Vorteil sehen werden und mit wem sie sich daher verbünden, geschweige denn, wie sie im Einzelnen vorgehen werden. Gerade die Habgier macht die Menschen unberechenbar. Die Variablen sind also zahlreich; welche von ihnen eintreten wird, kann niemand vorhersagen.
Mit diesem historischen Erkenntnis-Minimalismus konnte sich Machiavelli nicht zufriedengeben, so sehr er auch mit Vettori übereinstimmte, was den grenzenlosen Egoismus der Menschen und den daraus entspringenden Trieb zur Expansion betraf. Für ihn gab es Kräfte, die die Geschichte über das Wollen und Streben von Personen und Nationen hinaus bestimmten:
Vollständig täuscht ihr Euch im Fall der Schweizer, ob sie mehr oder weniger zu fürchten seien. Ich nämlich bin der Meinung, dass sie über alle Maßen zu fürchten sind. Casa weiß ebenso wie viele meiner Freunde, mit denen ich über diese Dinge zu diskutieren pflege, dass ich die Venezianer seit jeher gering schätzte, auch als es ihnen noch gut ging. Ja, mir schien es ein viel größeres Wunder, dass sie ihr Imperium eroberten und behielten, als dass sie es verloren. Dabei war ihr Ruin noch viel zu ehrenvoll, denn das, was ein König von Frankreich bewirkte, hätte auch ein Cesare Borgia oder sonst ein Truppenführer von einigem Ruf bewerkstelligen können, wo immer er in Italien auftauchen mochte – mit 15.000 Mann hätte er leichtes Spiel gehabt. Zu dieser Einschätzung gelange ich deshalb, weil die Venezianer ohne eigene Befehlshaber und ohne eigene Soldaten operierten. Dieselben Gründe, weshalb ich die Venezianer nicht fürchte, lassen mich die Schweizer fürchten … Im Moment wollen sie keine Untertanen, weil sie darin keinen Vorteil sehen. So reden sie jetzt, weil sie es jetzt so sehen. Doch die Dinge gehen stufenweise, wie ich Euch in einem anderen Brief schrieb, und oft werden die Menschen aus Notwendigkeit zu dem getrieben, was sie aus eigenem Antrieb gar nicht wollten … Eine Bestandsaufnahme zeigt, dass die Schweizer in Italien jetzt schon einen Herzog von Mailand und einen Papst tributpflichtig gemacht haben. Diesen Tribut aber haben sie als regelmäßige Einnahme abgebucht, auf die sie nicht verzichten wollen. Wenn er aber ausbleibt, werden sie diese Verweigerung als Rebellion bestrafen, mit ihren Piken ausrücken, siegen, die Besiegten unterwerfen und sich ganz einverleiben … Und was die Spaltungen und Zerwürfnisse unter ihnen betrifft, so glaubt nicht, dass sie Auswirkungen haben werden, solange sie ihre Gesetze beachten werden, was sie eine Zeitlang tun werden. Denn unter ihnen gibt es keine Häupter mit Gefolgschaft, und Häupter ohne Gefolgschaft gehen rasch wieder unter und haben keine großen Folgen … Ich glaube nicht, dass die Schweizer ein Imperium wie die Römer gründen werden, aber ich bin davon überzeugt, dass sie durch die räumliche Nähe, durch unsere Zwistigkeiten und unsere schlechten Ordnungen Schiedsrichter Italiens werden können – was mich erschreckt und was ich verhindern möchte.[ 70 ]
Die kleine Eidgenossenschaft wurde hier überlebensgroß abgebildet. Dass die Schweizer den Herzog von Mailand von sich abhängig gemacht hatten, stimmte – doch was war mit der Tributpflichtigkeit des Papstes gemeint? Wie seine Vorgänger auch, stellte Leo X. eidgenössische Söldner in Dienst, doch wurde er dadurch deren Untertan?
Machiavelli argumentierte wie folgt: Wer Söldner in Anspruch nahm, machte sich von diesen abhängig. Julius II. hatte mithilfe der Schweizer gesiegt, Leo X. versuchte ihm darin nachzueifern. Auf diese Weise kehrten sich die Abhängigkeitsverhältnisse um, das heißt: beide Päpste wurden zu Vasallen der Eidgenossenschaft. Das war im Sinne einer politischen Formelbildung konsequent zu Ende gedacht und doch für Vettori von unfreiwilliger Komik – Machiavelli lief in seinen Augen Gefahr, nach seiner Freilassung aus dem Kerker der Medici der Gefangene seines eigenen Gedankensystems zu werden.
Eine einzige
Weitere Kostenlose Bücher