Machos weinen nicht
durchquerten mehrere Waggons. Es wurde heller. Im vordersten Wagen waren die Türen geöffnet. Draußen begann schon die Station »Wladimirskaja«. Mit eingezogenen Köpfen, als hätten sie Angst, sich zu stoßen, traten die Passagiere auf den Bahnsteig.
Das Erste, was ich erblickte, war ein auf dem Bahnsteig liegender Männerschuh. Aus seinem aufgerissenen Inneren ragte etwas Zottiges. Hinter dem Schuh war der Bahnsteig mit feinen Glassplittern übersät. Sie knirschten unter den Füßen. Ich ging zum Anfang des Zuges und schaute in die Kabine. Drinnen saß der Zugführer. Er starrte mit glasigen Augen vor sich hin. Auf dem Schaltpult lag mit dem Futter nach oben seine Dienstmütze. Der Zugführer hatte ein graues, nasses Gesicht. Der Fußboden in der Kabine war voller Glassplitter.
Aus dem Waggon stiegen die Passagiere aus. Bald wurde es auf dem Bahnsteig eng. Von der anderen Seite kam noch ein Milizionär gelaufen. Der Zugführer saß weiter in der gleichen Haltung. Es schüttelte ihn wie im Fieber.
»Da vorn ist er!«
Alle begannen zu schnattern und sich auf halber Höhe des vordersten Wagens zu drängen. Sologub teilte mit der Schulter die Menge. Er schaute lange in den Zwischenraum zwischen Bahnsteig und Waggon, dann kam er zu mir zurück.
»Geh rüber und guck dir das an.«
Das Gesicht auf die schmutzigen Bahnschwellen gedrückt, lag ein Mann unter dem Waggon. Seltsamerweise bis zum Gürtel nackt. Unter dem Gürtel schaute ein Streifen der hellen Unterhose hervor. Längs der Wirbelsäule war die Haut mehrere Male aufgerissen. Gleich über meinem Ohr schnaufte ein dicker Kerl in Hut und Brille. Er trat vom Rand des Bahnsteigs zurück, sagte: »Pfui! Widerlich!«, und verschwand. An seine Stelle trat ein junger Mann mit seinem Mädchen. Sie drückten sich fest aneinander. Das Mädchen biss sich auf die Lippen und starrte mit weit aufgerissenen Augen.
Sologub kam angerannt: »Hast du einen Presseausweis dabei?«
»Hab ich.«
»Und ein Diktafon?«
»Ein Diktafon nicht.«
»Mist! Dann schreib mit Kuli. Versuch, Beruf und Name rauszukriegen. Auf in den Kampf! Du nimmst dir die Bullen vor, und ich spreche mit den Zugführern. Scheiße! Wieso haben wir keinen Fotografen dabei? Los, los!«
Ich wühlte in meinen Taschen und machte mich dann auf die Suche nach einem Milizionär. Ein sauberes Blatt Papier hatte ich nicht. Ich beschloss, die Angaben auf der Rückseite eines alten Fax zu notieren. Als der Milizionär meinen Presseausweis erblickte, war er sehr erstaunt. Sein Haar hatte die Farbe lange nicht gewaschener Socken. Zuerst fragte er, wie die Presse es geschafft habe, so schnell am Ort des Geschehens zu sein. Dann erklärte er mir die Situation. Wie alles passiert war, habe er auch nicht richtig gesehen. Er habe am anderen Ende des Bahnsteigs gestanden. Gesehen habe er, wie der Zug scharf bremste und es Glassplitter regnete. Da wurde ihm klar, dass etwas nicht in Ordnung war. Entsprechend seiner Instruktion habe er daraufhin die Passagiere aus dem Zug geführt.
»Gibt es Zeugen?«
»Woher denn! Hier standen ja nur drei Leute. Das Pärchen da drüben und dieser Karenin. Das Pärchen hat geknutscht, der Bursche liegt auf den Schienen. Niemand hat etwas gesehen.« Die Passagiere schlenderten über den Bahnsteig und guckten, wo es das meiste zu sehen gab. Sie hatten die Gesichter von Kindern, die ihre Eltern gerade beim Sex ertappt haben. Eine Tante mit Brille versuchte Speichel sprühend zu beweisen, dass man diesen Mann gestoßen hätte. Ganz bestimmt hätte man ihn gestoßen! In jeder Hand hielt die Tante eine Tasche. Beim Versuch, ohne Hände ihre rutschende Brille zurechtzurücken, verzog sie auf hässliche Weise das Gesicht. Ihr einziger Zuhörer war ein verschlafener Opa. Er trug ein Jackett mit Ordensstreifen, eine Jogginghose und eine Kappe mit der Aufschrift »Chicago Bulls«.
»Na und?«
»Der Polyp hat einen Kommentar gegeben. Ich hab alles notiert.«
»Hast du den Namen rausgekriegt?«
»Verdammt! Das hab ich vergessen.«
»Gleich kommt der Chef. Entweder von der Station oder von der ganzen Metro. Der Zugführer ist völlig weggetreten. Den wird man gleich selber ins Krankenhaus bringen. Mist! Warum haben wir keinen Fotografen!«
Ich spuckte auf alles, holte meine Zigaretten raus und rauchte. Ein vorbeilaufender Sergeant runzelte die Stirn, blieb aber nicht stehen. Die Passagiere gingen um den auf dem Bahnsteig liegenden Schuh herum. Ich spazierte an den noch geschlossenen
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