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Machos weinen nicht

Machos weinen nicht

Titel: Machos weinen nicht Kostenlos Bücher Online Lesen
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»Zwergensocken« genannt: Sie sahen aus wie die, die in Disneys Film Schneewittchens Zwerge tragen. Ihr von der Liebe verschmiertes T-Shirt mit den langen Ärmeln.
    Aber ich lüge, das ist nicht alles. Eine ganze Woche nach ihrer Trennung trug er noch ihren Ohrring. Einfach ein kleiner Silberring im Ohrläppchen. Sie hatte selber den Verschluss zugehakt, und er hatte ihn kein einziges Mal geöffnet. Aber als er dann aus dem Konzert der Gruppe The Great Sorrow kam und an sein Ohr griff – war der Ohrring nicht mehr da. Er war verschwunden, aufgegangen, heruntergefallen, verloren gegangen, spurlos verschwunden. So etwas war ihm schon einmal passiert. Vor zehn Jahren war der junge Mann mit einem Mädchen namens Anna gegangen. Sie hatte lange, dünne Kinderbeine, ein lachlustiges Kinn und ein Muttermal über der Oberlippe. Anna schenkte ihm einen billigen Ring aus Plastik. Auf den Finger passte er nicht, und es hätte auch dumm ausgesehen, einen Frauenring am Finger zu tragen. Er befestigte ihn am Schlüsselbund.
    Der Ring hing dort über ein Jahr, und dann sah er plötzlich, wie er zerfiel, gleichsam alterte. Er hielt ihn vors Gesicht, und der Ring knirschte zwischen den Fingern und zerbrach in lauter winzige Stückchen. Das geschah im Sommer, Anna machte gerade Urlaub im Süden. An jenem Abend war sie mit einem jungen kaukasischen Milizionär in die Berge gefahren, saß im Auto, trank den mitgebrachten Wein und bewunderte den Leuchtturm und den schwarzen Klecks des Meeres. Als sie sich satt gesehen hatte, sagte sie »Ja« – und blies ihm genüsslich einen. Hastig, schon im Voraus stöhnend, hatte sie ihm die Uniformhose aufgeknöpft, und danach sagte der Milizionär, das sei der erste orale Sex in seinem Leben gewesen.
    Spöttisch die Lippen verziehend und dem jungen Mann in die Augen sehend, sagte Anna, es habe »sehr, wirklich se-e-ehr lange« gedauert. Anna wollte ihn zum Abschied kränken. Sie schrie über die ganze Straße, dass das Milizionärsglied, als sie es mit den Lippen berührt habe, ihr zart wie die Haut eines neugeborenen Babys vorgekommen sei. »Die Kaukasier haben tolle Schwänze, groß und braun gebrannt, soll ich dir zeigen, wie groß, soll ich, du Blödmann, oder soll ich nicht, warum sagst du nichts?!«
    Er sah, dass Anna Angst hatte. Sie fürchtete, er könne sie schlagen, und er schlug sie tatsächlich. Brachte es nicht fertig, die Erwartungen einer Dame zu enttäuschen. Das Datum, an dem es geschehen war, hatte sie ihm auch selbst genannt. Der Ring zerfiel nicht einen Tag vorher und nicht einen Tag nachher, sondern genau mehrere Stunden nachdem der junge Sergeant mit dicken behaarten Fingern die widerspenstigen Knöpfe an seiner grauen Hose zugeknöpft hatte.
    Das Leben ist voller Zufälle und merkwürdiger Symbole. Nur zieht man es vor, darüber nicht zu reden. Aber eigentlich wusste er schon, was der Verlust des Ohrrings bedeutete. Also denn, wenn schon darüber reden – dann ohne Umschweife. Die Sache war nämlich die, dass er sie zwei Tage zuvor gesehen hatte. Es war ein stiller Herbstabend, er ging an der Kirche vorbei, die eigens für die Hochzeit der Zarin Elisabeth erbaut worden war. Der Ohrring war schon nicht mehr in seinem Ohr. In den Fenstern brannte gelbes Licht, die Bewohner der Mochowaja führten ihre Hunde Gassi. Auf dem Asphalt lagen gelbe Blätter. Und auf der anderen Straßenseite kam sie gerade aus dem kleinen georgischen Restaurant »Metechi« und stieg lachend in ein Auto. Ja-ja, aus eben diesem »Metechi«, glauben Sie immer noch nicht an merkwürdige Zufälle? Sie trug einen neuen, teuren Mantel, und um den Hals hatte sie ein seidenes Tuch gebunden. Gelb. Die Wagentür war halb geöffnet. Sie hob ein langes Bein, um einzusteigen, und zupfte gleichzeitig ihre teure Frisur zurecht.
    Als er an diesem Abend im Bett lag, sah er ihr im herbstlichen Halbdunkel schimmerndes Lächeln. Vielleicht hatte der Besitzer des Wagens etwas Komisches gesagt, vielleicht freuten sie sich darüber, dass sie lecker gegessen hatten und der Abend erst anfing. Das Essen im »Metechi« ist reichlich und gut: Sulu-guni, Lobio, Schaschlik, Ljulja-Kebab, Chinkali ... Und trotzdem konnte er nicht begreifen, warum gerade dieses Restaurant.
    Ihm wäre niemals in den Sinn gekommen, seine neue Freundin ins »Metechi« zu führen. Ja, und auch ohne Freundin würde er nie wieder dort essen gehen. Das wusste er ganz genau.
    Es war nämlich so, dass er die kaukasische Küche gründlich leid war.

Dritter

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