Mach's falsch, und du machst es richtig
Entscheidungen, aber ebensowenig bloß aufgrund fremder Beschlüsse.
Dieser Hinweis scheint mir aus vielerlei Gründen wichtig. Zunächst, weil er uns aus der Verantwortung entläßt, alleinige Verursacher bestimmter Entwicklungen zu sein, ob nun positiver oder negativer Art, öffentlicher oder privater Natur. Daß zum Beispiel unsere privaten Beziehungen gelingen oder scheitern, liegt gleichermaßen an uns wie an unseren Partnern wie an den Verhältnissen, in denen wir leben – und diese Verhältnisse werden von vielen Mechanismen definiert. So kann, überspitzt formuliert, in einer bestimmten Konstellation sogar das Muster der Tapete, die im Flur hängt, darüber entscheiden, ob unsere Beziehung gelingt – oder scheitert (ohne nun auch nur in Ansätzen sagen zu können, welches Muster welchen Effekt hat). Daher sind auch all jene Ratgeber schädlicher Unfug, die uns glauben machen wollen, es liege ausschließlich an uns – an unserer Einstellung und Leistungsbereitschaft –, ob wir im Leben oder im Beruf Erfolg haben oder nicht.
Doch die Frage nach dem konkreten Kontext ist auch aus einem anderen Grund von entscheidender Bedeutung. Wie wir gesehen haben, gibt der Mechanismus der Selbstregulation keinen konkreten Weg vor, wie unser Ich nach einer Störung wieder zur Ruhe kommen kann. Wer hungrig ist, hat erst einmal den Impuls, dieses Gefühl der Unlust wieder zum Verschwinden zu bringen – egal wie. Weil Simon das so anschaulich beschrieben hat, will ich ihn noch einmal zitieren: «Das körperliche Bedürfnis ist der berühmte Fahrgast, der in ein Taxi steigt und sagt: ‹Ich weiß zwar nicht wohin, aber fahren Sie bitte schnell!›» Dieser Moment ist es, in dem Aussagen wie «Das kannst du nicht!» ihre Wirkung entfalten. Sie stören nämlich nicht nur unser Ich, sondern definieren auch den konkreten Kontext der nun folgenden Selbstregulation. Kaum ist der Satz ausgesprochen, wird für den metaphorischen Taxifahrer klar, welchem Ziel die Fahrt gilt: die in Zweifel gezogene Autonomie unseres Ichs wiederherzustellen, indem wir die Behauptung mit dem Gegenbeweis zu widerlegen versuchen. Die jeweilige Situation entscheidet darüber, wohin unser Ich, dieser Taxifahrer unseres Lebens, uns zu dirigieren versucht. Es gehört zur Paradoxie dieses Phänomens, daß unsere Handlungen, die ja die eigene Unabhängigkeit beweisen sollen, so vorhersehbar sind – und damit steuerbar. Wer also ein Schild mit der Botschaft «Frisch gestrichen!» aufhängt, der kann zweierlei: vorhersagen, daß viele Menschen das Objekt berühren werden, auf dem diese Warnung hängt. Und Sie können das Schild dazu verwenden, um genau dieses Verhalten herbeizuführen. Das bedeutet: In dem Moment, da es uns gelingt, zu zeigen, daß nichts unsere Handlungsfreiheit einschränken kann (weil wir uns von einer Warnung nicht abhalten lassen), beschädigen wir unsere Autonomie. Halten wir uns hingegen an die Warnung (lassen wir es also zu, daß man unsere Autonomie einschränkt), geschieht das gleiche.
In welche unauflösbaren Situationen wir durch die Störungen unseres Ichs auch geraten mögen – an der existentiellen Bedeutung, die sie für unser Ich haben, kann das nichts ändern. Eine Bedeutung, derer wir uns selten bewußt sind (zu Recht, denn sonst kämen wir ja zu nichts mehr). Denn während wir uns ächzend und seufzend aufraffen, um auf eine Irritation zu reagieren, sind wir stets der Ansicht, von wichtigeren Dingen abgehalten zu werden; in Wirklichkeit jedoch sind es genau diese Irritationen, die uns minütlich von neuem dazu befähigen, all jene Dinge zu schaffen, von denen wir uns eben abgehalten fühlen. So empfinden wir es zwar als (kaum merkliche) Kränkung unserer Autonomie, wenn jemand ein Schild mit der Aufschrift «Frisch gestrichen!» aufhängt, zugleich aber dient es einer (kaum merklichen) Wieder-Etablierung unserer Autonomie, indem wir mit dem Finger an die feuchte Farbe tippen oder mißmutig das Schild anstarren. Wer einmal damit beginnt, seinen Alltag auf diese Mikroaktionen hin zu betrachten, dem wird auffallen, daß es keinen Moment gibt, in dem er nicht gestört wird und in dem er nicht auf etwas reagiert bzw. reagieren muß. Mit ein Grund übrigens, warum wir abends erschöpft aufs Sofa fallen – selbst dann, wenn wir den subjektiven Eindruck haben, nicht viel geleistet zu haben. In Wirklichkeit haben wir sehr viel geleistet. Allein die Aufrechterhaltung unseres Ichs ist schließlich anstrengend genug.
Zeit
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