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Mach's falsch, und du machst es richtig

Mach's falsch, und du machst es richtig

Titel: Mach's falsch, und du machst es richtig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christian Ankowitsch
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nachgegangen, ob Gruppen dazu in der Lage sind, uns klüger oder dümmer zu machen. Er würde das zwar nie so formulieren, aber im Grunde ging es ihm um genau dieses Problem, denn in den vergangenen Jahren hat sich – vor allem unter dem Eindruck einzelner Internetprojekte wie dem Lexikon «Wikipedia» – die Überzeugung durchgesetzt, es gebe eine «Weisheit der Vielen» [76] , die bloß positive Ausprägungen kenne.
    In einer ersten Runde der Studie baten Helbing & Co. ihre Probanden, verschiedene Fakten zu schätzen: die Bevölkerungsdichte der Schweiz pro Quadratkilometer, die Länge der Grenze zwischen Italien und der Schweiz, die Einwohnerzahl von Zürich im Jahr 2006 , die offizielle Mordrate, Raubüberfälle und Tätlichkeiten in der Schweiz. [77] Erst einmal befragten die Wissenschaftler die Versuchspersonen einzeln und hielten deren Schätzungen fest. In weiteren Runden halfen sie ihnen ein wenig auf die Sprünge: Sie verrieten den Teilnehmern, wie hoch der Durchschnitt aller abgegebenen Schätzungen lag, und im anderen Fall, welche Schätzungen die übrigen Teilnehmer konkret abgegeben hatten. Als Anreiz fürs Mitmachen diente stets dasselbe Versprechen: Wer durch seine Schätzung dem richtigen Wert am nächsten komme, erhalte Geld. Das Experiment ließ es also für den einzelnen Teilnehmer wenig sinnvoll erscheinen, auf die anderen zuzugehen und mit ihnen zu kooperieren. Dennoch bezogen die Versuchspersonen, kaum hatten sie die Schätzungen der anderen erfahren, diese in ihre Überlegungen mit ein. Und kamen ganz offensichtlich ins Grübeln, nach dem Motto: «Warum weichen meine Schätzungen von denen der anderen ab? Wissen die vielleicht etwas, von dem ich keine Ahnung habe? Was macht mich eigentlich so sicher, daß gerade ich richtigliege?»
    Das Ergebnis der Studie mit dem Titel «Wie sozialer Einfluß die Weisheit der Vielen untergraben kann» ist eindeutig: Die anfangs recht unterschiedlichen Schätzungen begannen sich anzugleichen. Und zwar um so stärker, je häufiger die Probanden von den Schätzungen der anderen erfahren hatten. Schließlich kam es zu Konsensschätzungen, die sich dadurch auszeichneten, daß sie deutlich weniger voneinander abwichen als noch zu Beginn der Versuchsreihe. Die Teilnehmer der Studie hatten sich also nicht zusammengestritten, sondern zusammengemutmaßt. Und nicht nur das: Am Ende waren sie auch noch davon überzeugt, ihre allmählich gefundenen, einander recht ähnlichen Werte kämen der richtigen Lösung sehr nahe. Der Grund: Die Menschen schlossen aus dem Umstand, daß ihre schlußendlichen Schätzungen mit denen der anderen übereinstimmten, sie seien auf der sicheren Seite. Ein kollektiver Trugschluß, wie sich herausstellen sollte – lagen doch die mittleren Schätzungen am Ende der Versuchsreihe deutlich häufiger daneben als noch zu Beginn. Wie die Experimente von Helbing & Co. zeigten, hatten die Schätzungen anfangs – als jeder Teilnehmer aufgerufen war, sie aufgrund eigener Kompetenzen anzustellen – die richtige Lösung eingeschlossen. Und ihr Mittelwert traf diese sehr gut. Die Konsenslösungen hingegen lagen oft daneben, und das resultierende Meinungsspektrum schloß die richtige Lösung manchmal gar nicht mehr ein. Das bedeutet: Die Gruppe hatte zwar dafür gesorgt, die Schätzungen zu harmonisieren, diese Schätzungen waren aber konsequent – falsch.
    Auch Gremien und Expertenkommissionen, wie sie heute organisiert sind, seien von dieser Dynamik bedroht und stünden daher im Verdacht, eher harmonische als sachlich richtige Ergebnisse zu liefern.

Schon die kleinsten Details des Alltags sind dazu geeignet, unsere Selbstgewißheit zu stören. Kein Wunder, daß schon ein ganz normaler Tag uns alles abverlangen kann. Ein paar Beispiele.
    Wie können uns nun die beiden kurzen Ausflüge in die Fußgänger- und die Meinungsbildungsforschung dabei helfen, eine Antwort auf die weiter oben formulierte Frage zu finden: warum wir auf Aussagen, die nur im entferntesten den Anschein erwecken, unsere Autonomie und Kompetenzen anzuzweifeln, damit reagieren, sie unter Beweis stellen zu wollen. Die beiden Beispiele tun dies, indem sie uns zeigen, wie stark wir Menschen auf jenen Kontext reagieren, in dem wir uns bewegen, wie wir diesen Kontext durch das eigene Verhalten mitbestimmen, um dann in einer neuerlichen Schleife wieder von ebendiesem Kontext beeinflußt zu werden und immer so fort. Wir agieren also nie im luftleeren Raum, nie bloß aufgrund eigener

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