Mach's falsch, und du machst es richtig
Bekannten als vor dem Fremden gewarnt werden. Gleichzeitig aber sind wir bestrebt, das grundsätzliche Vertrauen der Kinder in die Menschen zu bestärken und jenes in Männer grundsätzlich nicht zu erschüttern. Auf solche und ähnliche Fragen können wir nur mit beherzter Unentschiedenheit antworten – in der Hoffnung, daß unsere Kinder in der Lage sind, unsere Ambivalenzen in umsetzbare Ratschläge zu übersetzen.
Ein besonders dramatisches Beispiel für unsere Ambivalenzen bietet uns ein gewisser James Bond Stockdale, ein ehemaliger Vize-Admiral der amerikanischen Marine, nach dem das folgende Paradoxon auch benannt wurde. Stockdale nahm am Vietnam-Krieg teil, wurde am 9 . September 1965 gefangengenommen und acht Jahre lang in dem berüchtigten Gefangenenlager von Hoa Lo festgehalten, zynischerweise «Hanoi Hilton» genannt. Wobei der Ausdruck «festgehalten» die Sache nicht einmal andeutungsweise trifft: Stockdale, ranghöchster Marineoffizier in vietnamesischer Gefangenschaft, wurde vier Jahre lang in Einzelhaft gehalten, mußte zwei Jahre eiserne Fußfesseln tragen und wurde fünfzehnmal gefoltert. Ganz zu schweigen davon, daß er nicht wußte, ob er das Lager je lebendig verlassen würde. All das konnte Stockdale nicht davon abhalten, immer wieder mit den anderen Gefangenen zu kommunizieren. Sein Ziel: Er wollte sie mit seiner Philosophie moralisch aufrichten, damit sie die Haft gegebenenfalls als einigermaßen intakte Menschen verlassen würden. Und wie lautete die Kernaussage seiner Philosophie? «Man darf zwei Dinge nie durcheinanderbringen: den Glauben daran, daß man sich schließlich durchsetzen wird – wie schwierig das auch sein mag –, und die Disziplin, den brutalsten Fakten der eigenen, aktuellen Wirklichkeit ins Auge zu sehen, wie immer die auch sein mögen.» [151] Das ist zwar sehr martialisch formuliert (und Stockdale als Soldat im Krieg nicht unbedingt als Vorbild geeignet), bringt aber die Ambivalenzen unseres Lebens auf den Punkt: Glaub dran, daß du es schaffst, und sei dir dabei bewußt, daß du nicht die geringste Chance haben könntest. Es besteht kein Anlaß, uns für eine der zitierten Seiten zu entscheiden. Ganz im Gegenteil, denn: «Lebende Systeme, menschliche Individuen, Familien etc. sind ambivalent organisiert, sie müssen stets gegensätzliche Strebungen ausgleichen und miteinander versöhnen. Wo kein Raum für ein Sowohl-Als-auch bleibt und niemals ‹jain› statt ‹ja› und ‹nein› geantwortet werden kann, entsteht Verrücktheit» [152] , faßt Fritz B. Simon die Lehre aus unserem Hang zur Doppeldeutigkeit zusammen.
Zu einer der großen Leistungen der Popmusik gehört es, daß sie von sehr komplizierten Sachverhalten auf sehr einfache Weise erzählen kann. Die Britpop-Band Divine Comedy hat das getan, als sie in ihrem Song «Gin-soaked Boy» lauter wunderbare Gegensatzpaare aufzählte:
I’m the darkness in the light
I’m the leftness in the right
I’m the rightness in the wrong
I’m the shortness in the long
I’m the goodness in the bad
I’m the saneness in the mad
Wir bewegen uns also stets in beiden Sphären, in der Dunkelheit und im Licht, im Richtigen und im Falschen. Einmal sind wir Individuen, so einzigartig wie unser Fingerabdruck und mit der Macht ausgestattet, das Schicksal eines Landes zu wenden, wie ich das am Beispiel Nelson Mandelas zu zeigen versucht habe. Und im nächsten Moment sind wir Teil einer gesichtslosen Masse und brechen mit Tausenden anderen in Begeisterung aus, weil wir hingerissen sind von Divine Comedy, der wir dabei zuhören, wie sie uns von den eigenen Ambivalenzen erzählt. Für welche der beiden Seiten sollten wir uns da entscheiden? Können wir uns überhaupt entscheiden? Eine Frage, die angesichts der Vielfältigkeit des eigenen Lebens nicht nur wenig sinnvoll erscheint, sondern uns direkt in unauflösbare Konflikte führt.
Oft kommt es zum Konflikt zwischen unseren einfachen Regeln und den Ambivalenzen des Lebens. Dann finden wir uns mit paradoxen Aufforderungen konfrontiert, die wir enttäuschen, wenn wir sie erfüllen – und erfüllen, wenn wir ihnen nicht entsprechen.
Manchmal reicht bereits eine kurze Aufforderung, um andere in eine ungemütliche Situation zu manövrieren. Und zwar, wenn wir sagen: «Sei spontan!» Ungemütlich ist die Situation, weil der Angesprochene in dem Moment, da er der Aufforderung folgt, ihr
zuwiderhandelt
. Denn das Wesen von Spontaneität besteht bekanntlich darin, daß wir
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