Mach's falsch, und du machst es richtig
sondern automatisch und aus Gründen, die uns verborgen bleiben. Oft helfen uns diese Routinen bei der Bewältigung des Alltags, doch sie bringen uns immer wieder in Schwierigkeiten. In diesem Moment sind wir gut beraten, uns mit ihnen auseinanderzusetzen. Was leichter gesagt als getan ist, entziehen sie sich doch unserer Wahrnehmung. Eine Möglichkeit besteht darin, Außenstehende um Rat zu fragen, also Menschen, die nicht so sehr eingesponnen sind in unsere Versuche, mit der komplexen Realität zurechtzukommen. Indem sie
von außen
auf unser System blicken, sind sie in der Regel eher dazu in der Lage, die verhängnisvollen Auswirkungen unserer Routinen zu erkennen.
Weil wir aber nicht ständig andere danach fragen können, in welchen Verhältnissen wir eben stecken, bleibt uns nur eine Chance, ansatzweise zu verstehen, was wir den lieben langen Tag eigentlich treiben: damit aufzuhören, zu tun, was wir eben tun. Um in den Modus «Nichthandeln» umzuschalten. Wenn wir
nichts
tun, unterbrechen wir den Ablauf von Ereignissen. Uns mag es zwar nicht gelingen, aus der Situation auszusteigen, aber zumindest
stören
wir das organische Ineinandergreifen der Ereignisse für kurze Zeit, so daß sich ein winziger leerer Zeitraum ergibt, der eine andere Qualität hat als jenes Zeitkontinuum, das mit dem Summen fleißiger Betriebsamkeit erfüllt ist – ganz so, wie das der Philosoph und Psychotherapeut Matthias Varga von Kibéd in einem Interview beschrieben hat [183] : Nichthandeln sei «eine Option, die leider häufig mit Nichtstun verwechselt wird». Sie sei aber «die Fähigkeit, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten, nach einer angemessenen Haltung zu suchen, aus der erst eine angemessene Handlung erfolgen kann, oder einen geeigneten inneren Ansatzpunkt zu wählen, der uns in die Lage versetzt, etwas zu tun». Von «hektischen Aktivitäten» hält der Psychotherapeut in diesem Zusammenhang weniger. Diese seien «oft eine Flucht, um sich der Herausforderung einer grundsätzlichen Änderung nicht zu stellen. Das Phänomen kann man häufig in Firmen und in der Politik beobachten: viel tun, ohne grundsätzlich an den Problemen was zu ändern. Auch in Beziehungen ist das häufig zu beobachten. Der eine fragt den anderen ununterbrochen: Willst du etwas? Was kann ich machen?» Dieses Beschäftigungsprogramm diene laut Varga von Kibéd einem paradoxen Zweck: Man bleibe in ständiger Bewegung, «nur um sich nicht wirklich die Ruhe zu nehmen, den Partner neu zu sehen, sich auf ihn einzulassen, über ihn zu staunen. Für diese Entdeckung braucht man einen Raum des Nichthandelns.» Das bedeutet: Wir handeln, um uns vom angemessenen Handeln abzulenken. Und da heißt es immer, wir sollten endlich etwas tun, um voranzukommen. So kann man sich täuschen. Manchmal.
Im entscheidenden Augenblick nichts zu tun und auch andere davon zu überzeugen, kann mitunter den Beginn eines Nuklearkriegs verhindern – und hat es bereits.
Wie kurz diese von Varga von Kibéd angesprochenen Momente des produktiven Nichthandelns sein und welch weltpolitische Bedeutung die solcherart ermöglichten Handlungen bekommen können – das zeigt die folgende Geschichte. Sie ereignete sich in der Nacht des 26 ., 27 . oder 28 . Septembers 1983 . So genau läßt sich das trotz intensiver Recherchen nicht mehr sagen. [184] Um so genauer hingegen, daß die Welt in dieser Nacht einem Atomkrieg so nahe kam wie niemals zuvor; eine These, die nicht übertrieben erscheint, wird sie doch von Bruce G. Blair vertreten, dem Präsidenten des gemeinnützigen World Security Institute und Spezialisten für amerikanische und russische Sicherheitspolitik.
Um zu verstehen, unter welchem Druck der Held unserer Geschichte stand und an welch dünnem Faden der Weltfrieden hing, müssen wir bedenken, daß im Jahr 1983 die kälteste Phase des ohnehin schon ziemlich Kalten Krieges herrschte. Auf der einen Seite Ronald Reagan, der die Sowjetunion im März als «Evil Empire» bezeichnet hatte. Daß es sich dabei um keine leere Floskel handelte, zeigte die Entschlossenheit, mit der die USA im selben Jahr begannen, neue Raketen und Marschflugkörper in Westeuropa aufzustellen, darunter jene Pershing II , die damals jedes Kind kannte, so lange war über deren Stationierung im Rahmen des NATO -Doppelbeschlusses gesprochen worden. Die gegen das «Reich des Bösen» gerichteten Raketen verkürzten die Vorwarnzeiten für den Fall eines Angriffs auf wenige Minuten, was die Gefahr eines irrtümlich
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