Macht des Schicksals - Spindler, E: Macht des Schicksals
einen Schritt zurück. Das war kein fernes Gewehrfeuer. Wer immer den Schuss auch abgefeuert hatte, er war viel zu nah. Auch wenn es immer wieder zu Unfällen kam, würde ein Jäger es schwer haben, sie davon zu überzeugen, dass er sich geirrt hatte. In ihrer weißen Hose und ihrem leuchtend orangefarbenen Top konnte niemand sie mit einem Reh verwechseln.
Wenn es kein gedankenloser Jäger war, wer konnte es dann sein? Ihr Mund war trocken, als sie sich langsam zurückzog. Nein, dachte sie kopfschüttelnd, das kann nicht sein. Nicht Sal.
Sie ging weiter rückwärts auf das Haus zu, da sie zu viel Angst hatte, dem dichten Wald den Rücken zuzukehren, in dem man sich ohne Schwierigkeiten verstecken konnte. Als nichts weiter geschah, rief sie sich innerlich zur Ordnung. Das war lächerlich. Was sollte Sal hier machen? Er war kilometerweit entfernt und hatte sich in seinem großen, einsamen Haus vergraben, wo er wahrscheinlich seine Millionen zählte. Und niemand außer Gregory und Rachel wusste, dass die Französin in dem gelben Cottage in Wahrheit Alyssa Dassante war.
Ein kurzes Hupen sagte ihr, dass Hubert vom Doughnut-Shop zurück war. Nach einem letzten besorgten Blick zwischen die Bäume wandte sie sich ab und lief zu ihm.
Sal grinste amüsiert, als er Alyssa wie ein aufgescheuchtes Kaninchen davonlaufen sah. Er stand hinter dem Immergrün und küsste den Colt. Dieses Baby war nicht gerade die präziseste Waffe, die man sich wünschen konnte, aber sie machte einen höllischen Lärm. Der Ausdruck auf Alyssas Gesicht nach dem zweiten Schuss war an sich bereits Belohnung genug für alle Mühe, die er gehabt hatte, um hierher zu kommen und ihr Versteck zu finden.
Zunächst hatte er vorgehabt, sie auf der Stelle zu erschießen.
„Sie verbringt viel Zeit im Garten“, hatte Kelsey ihm gesagt. „Und morgens holt ihr Mann die Zeitung und Doughnuts.“
Ein Schuss, allerhöchstens zwei, und der Albtraum hätte ein Ende. Seine Pflicht gegenüber seinem Sohn wäre erfüllt. Doch nach einer Weile hatte er sich anders entschieden. Ein rascher Tod war nicht das, was er sich für dieses Miststück wünschte. Er wollte sie leiden und um ihr Leben flehen sehen. Er wollte ihr Angst einjagen und nicht nur wissen lassen, dass sie sterben würde, sondern auch, wer sie töten würde.
Heute hatte er nur mit ihr gespielt, und dafür war er reich belohnt worden. Einen Augenblick lang hatte er einen dritten Schuss abgeben wollen, nur um noch einmal diesen Ausdruck auf Alyssas Gesicht zu sehen. Schade, dass ihr Ehemann so früh zurückgekehrt war.
Er steckte die Waffe zurück in seinen Hosenbund und knöpfte die Jacke zu. Die Waffe verursachte zwar im Stoff eine Beule, aber das war nicht weiter schlimm. Er musste nicht allzu weit gehen.
Fröhlich pfeifend ging er den schmalen Pfad bergab, den er früher am Tag hinaufgegangen war und kehrte zu seinem Wagen zurück, den er hinter einer alten, verlassenen Papiermühle abgestellt hatte.
Gregory hatte Nico von Anfang an in Verdacht gehabt, und inzwischen hatte er einige interessante Fakten über den jüngeren Dassante-Sohn zusammengetragen. Die erste Tatsache war, dass ihm entgegen der vorherrschenden Meinung Dassante Farms gar nicht gehörte, er war lediglich der Geschäftsführer.
Die zweite Erkenntnis war gleichermaßen aufschlussreich. Mit einundzwanzig Jahren war Nico während des Dienstes in der Army dabei ertappt worden, wie er aus dem Offiziersclub, in dem er als Barkeeper schwarz arbeitete, Geld entwendet hatte. Er wurde vors Kriegsgericht gestellt, für schuldig befunden und unehrenhaft aus der Armee entlassen.
Das hört sich zwar nicht weltbewegend an, dachte Gregory, während er auf der Route 29 in Richtung Süden fuhr, aber es bewies eines: Nico neigte zum Diebstahl. Und wenn Marios Verdächtigungen über seinen Bruder der Wahrheit entsprachen, dann konnte es sein, dass Nico weit mehr als nur ein Veruntreuer war. Er konnte ein Mörder sein.
Gregorys erster Halt war Rio Vista, eine kleine Stadt, die rund dreißig Kilometer südlich von Winters gelegen war. Der Polizeibericht über den Tod von Mario Dassante hatte einen Angestellten erwähnt, einen Achtzehnjährigen namens Luis Ventura, der behauptet hatte, mehrere lautstarke Auseinandersetzungen zwischen Mario und Alyssa mitbekommen zu haben.
Luis unterhielt mittlerweile ein kleines Lebensmittelgeschäft in der Stadtmitte.
Ein wenig abseits stehend beobachtete Gregory den untersetzten, dunkelhaarigen Mann mit der
Weitere Kostenlose Bücher