Macht des Schicksals - Spindler, E: Macht des Schicksals
betrunken gewesen war, hatte sie ihn nicht ernst genommen. Was aber, wenn er es ernst gemeint hatte? Und wenn er wütend genug war, um ihr Angst einzujagen? Oder – noch schlimmer – ihr etwas anzutun?
Diese untypische Angst irritierte sie, und sie versuchte, diese Gedanken zu verwerfen. Was war mit ihr los? Das war schließlich nicht der erste anonyme Anruf ihres Lebens, und er würde nicht der letzte sein. Warum sollte sie sich also aufregen?
Ihre aufmunternden Worte schienen zu wirken, dennoch war sie nicht länger in der Stimmung für einen ruhigen Moment auf der Terrasse. Außerdem wurde es allmählich kalt und spät. Sie nahm Weinflasche und Glas in die eine, das Telefon in die andere Hand, trug alles nach drinnen und verriegelte hinter sich die Schiebetür.
Sie wollte den Telefonstecker aus der Wand ziehen, doch dann hielt sie inne. Um Gottes willen, Rachel, dachte sie und lachte über ihre eigene Angst. Geh schlafen, bevor du völlig paranoid wirst.
Obwohl sie für gewöhnlich nicht auf ihre eigenen Ratschläge hörte, schaltete sie das Licht aus und ging durch den Flur ins Schlafzimmer.
Nach ihrer Rückkehr von einem eintägigen Marketingseminar in Dallas saß Annie am Esstisch und blätterte im St. Helena Star. Als sie Seite vier erreichte, verschlug es ihr den Atem. Ein Foto von Rachel und Preston starrte ihr entgegen. Über dem Foto stand die Schlagzeile Alyssa Dassantes Tochter lebt – Verlobung gelöst .
Annie vergaß ihre halbe Grapefruit und überflog ungläubig den Artikel. Rachels leibliche Mutter war eine Mörderin? Großer Gott.
Nachdem sie den Artikel über den Mord vor einunddreißig Jahren und über Rachels gelöste Verlobung gelesen hatte, schoss Annie ein Gedanke durch den Kopf. Was, wenn Rachel herausfand, dass sie Gregory angeheuert hatte?
Stöhnend stützte sie den Kopf auf ihre Hände. Sie hatte niemals erwartet, dass die Wahrheit über Rachels Herkunft einen solchen Schaden anrichten und zudem so in der Öffentlichkeit breitgetreten werden könnte. Sie wollte nur etwas gegen ihre Schwester in der Hand haben, damit die aus freien Stücken Spaulding Vineyards an sie abgab.
Sie traute sich nicht mal, Gregory anzurufen, der außer sich sein musste vor Wut. Oh, Gott, was hatte sie bloß angerichtet?
„Mom? Gehts dir gut?“
Annie sah erschrocken auf. „Courtney.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln, als ihre Tochter das Zimmer betrat. „Ja, mir gehts gut. Ich habe bloß Kopfschmerzen, weiter nichts. Möchtest du ein wenig Obst, Darling? Ming hat ...“
„Ich habe keinen Hunger.“ Courtney nahm am gegenüberliegenden Ende des Tischs Platz. „Hast du gehört, dass Preston mit Rachel Schluss gemacht hat?“
Annie vermied es, ihrer Tochter in die Augen zu sehen. Sie durfte keinen Verdacht schöpfen. Niemand durfte Verdacht schöpfen. „Ich habe es gerade gelesen. Das ist ... schrecklich.“
„Ich habe eben bei ihr im Bungalow angerufen, aber sie geht nicht ans Telefon. Ich mache mir Sorgen um sie, Mom. Sie ist nicht zu Hause, nicht auf dem Weingut und auch nicht bei Tina.“
„Ich würde mir keine Sorgen machen, Darling.“ Annie griff nach der silbernen Kanne und goss sich noch eine Tasse Earl Grey ein. Zum Glück verriet ihre Hand nichts von ihrer Nervosität. „Wahrscheinlich will sie im Moment allein sein, um den Schock zu verarbeiten.“
Courtney nickte. „Könnte sein.“ Dann schüttelte sie den Kopf: „Ich kann es nicht glauben. Tante Rachel soll die Tochter einer Mörderin sein? Warum hat uns das niemand gesagt?“
Annie konnte ihre Tochter noch immer nicht ansehen, stattdessen knickte sie die Zeitung um und glättete die Falz mit ihrer Handfläche. „Wahrscheinlich, weil eine Familie solche Dinge nicht verbreiten will.“
„Und warum ist Daddys bester Freund in die Angelegenheit verwickelt? Für wen arbeitet er?“
Annie lachte nervös. „Darling, warum stellst du mir all diese Fragen? Ich habe keine Antworten darauf.“
„Aber du kennst ihn doch. Gregory Shaw war bei deiner Hochzeit.“
„Ich kann den Mann nicht ausstehen, Courtney. Jeder weiß das.“
„Tante Rachel hasst ihn auch.“
Annie blickte ruckartig auf. „Wann hat sie dir das denn erzählt?“
„Vor einiger Zeit. Du weißt, was damals passierte. Gregory kam dahinter, dass Tante Rachel in ihn verschossen war. Er und Daddy haben sich bei deiner Hochzeit darüber lustig gemacht.“ Sie sah auf die Zeitung neben Annies Teller. „Ich möchte wissen, was sie jetzt machen wird, wo sie
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