Macht des Schicksals - Spindler, E: Macht des Schicksals
erkannte. „Oh, Schwester Mary-Catherine.“ Sie war zu erschüttert, um noch ein Wort zu sagen, und biss sich auf die Lippe.
„Ja“, erwiderte die Nonne. „Hier ist Schwester Mary-Catherine. Wer spricht da? Wie kann ich Ihnen helfen?“
„Schwester, ich ...“
Hubert stellte sich neben sie und legte seinen Arm um ihre Schultern. Diese kleine Geste gab Ginnie die Kraft, weiterzureden und Worte zu sprechen, die sie außer gegenüber ihrem Mann seit einunddreißig Jahren nicht mehr ausgesprochen hatte: „Hier ist ... Alyssa. Alyssa Dassante.“
Sie hörte deutlich, wie die Frau am anderen Ende nach Luft rang. Dann fragte die Nonne so leise, dass Ginnie sie kaum hören konnte: „Mrs. Dassante? Sind Sie das wirklich?“
„Ja.“ Tränen liefen über Ginnies Gesicht. Die Stimme der Nonne brachte so starke Erinnerungen zurück, dass keine noch so vollkommene Selbstbeherrschung diese Emotionen unterdrücken konnte. „Ich bin es wirklich. Ich war nur nicht sicher, ob Sie noch im Kloster sind. Ich hatte befürchtet, dass man Sie vielleicht versetzt hatte.“
„Mein liebes Kind.“ Auch die Stimme der Nonne war jetzt voller Emotionen. „Wie wunderbar, von Ihnen zu hören. Ich hatte mich auch schon gefragt, ob ...“ Sie führte den Satz nicht zu Ende, aber Ginnie wusste, was sie dachte.
Schwester Mary-Catherine wurde erneut leiser, und diesmal musste sich Ginnie noch mehr anstrengen, um sie zu verstehen. „Lillie lebt“, sagte sie. „Ihr kleines Mädchen lebt.“
In dem Moment versagten ihre Beine ihr den Dienst, und Ginnie sank in den Sessel neben dem Telefon. „Wirklich, Schwester? Sind Sie da ganz sicher?“
„So sicher wie ich auf Gottes grüner Erde stehe. Sie war erst vor wenigen Tagen auf meine Bitte hin bei mir.“
Ginnie wischte die Tränen fort und zwang sich, ruhig zu sprechen. „Auf Ihre Bitte hin? Ich verstehe nicht.“
In den folgenden Minuten erfuhr Ginnie alles über die Verwechslung, die sich im Kloster ereignet hatte. „Ich brachte es nicht übers Herz, zur Polizei zu gehen“, sagte Schwester Mary-Catherine schließlich. „Ich hatte an dem Tag das Haus der Spauldings verlassen und wusste, dass Lillie dort gut aufgehoben war. Sie hatte Eltern und eine Großmutter gefunden, die sie liebten, eine Schwester, Freunde. Es wäre zu grausam gewesen, sie dort herauszureißen.“
„Das verstehe ich, Schwester.“ Ginnie drückte Huberts Hand. „Erzählen Sie mir von ihr, erzählen sie mir alles.“
Wieder vergingen einige Minuten, in denen die Nonne der von ihren Gefühlen hin- und hergerissenen Ginnie alles erzählte, was sie aus der Zeitung über Lillies bemerkenswerte Leistungen erfahren hatte.
„Ist viel über sie berichtet worden, nachdem die Wahrheit ans Tageslicht gekommen ist?“ fragte Ginnie.
„Meiner Meinung nach zu viel. Aber Sie müssen sich keine Sorgen machen, Rachel wird damit bewundernswert gut fertig. Sie ist eine starke und wundervolle junge Frau. Sie können sehr stolz auf sie sein.“
„Das bin ich, Schwester, das bin ich wirklich. Und was ist mit Ihnen?“ fragte sie etwas ruhiger. „Hat die Polizei Sie schon befragt? Sind Sie in irgendwelchen Schwierigkeiten?“
„Ihre Tochter hat mich angerufen, weil sie das Gleiche befürchtete. Erfreulicherweise genießt die Kirche eine gewisse Nachsicht, wenn es um solche Dinge geht. Die Polizei hat mich zwar ausführlich befragt, aber sie hat eingesehen, dass ich niemandem hatte schaden wollen.“
„Da bin ich froh“, erwiderte Ginnie, um dann aufgeregt zu sagen: „Ich möchte meine Tochter sehen, Schwester.“ Die Worte stürzten wie ein Wasserfall aus ihr heraus, und obwohl sie den kurzen Augenblick der Besorgnis in den Augen ihres Mannes sah, wusste sie tief in ihrem Herzen, dass sie so lange nicht mehr glücklich sein konnte, wie sie ihre Tochter nicht gesehen hatte. „Wo liegt Spaulding Vineyards?“
„In Calistoga.“ Es folgte eine kurze Pause. „Sie müssen gut auf sich aufpassen, Alyssa. Sal Dassante sucht noch immer nach Ihnen und andere Leute auch.“
Ginnie überraschte es nicht, dass Sal es nicht aufgegeben hatte, sie zu finden. Er war der starrköpfigste und rachsüchtigste Mann, den sie kannte. Aber warum sollte sonst noch jemand nach ihr suchen? „Welche anderen Leute sind das?“ fragte sie.
„Vor nicht allzu langer Zeit kam ein Mann her. Ich weiß nicht, wieso er von mir wusste und für wen er arbeitet, aber er wollte wissen, ob ich Sie kenne. Ich verneinte, und nachdem er wieder
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