Macht: Thriller (German Edition)
angefangen hat …« Gernot fuhr sich durch die Haare und stampfte auf. Er atmete tief durch und begann auf und ab zu gehen bis Atem und Körperhaltung wieder normal waren. »Jetzt gilt es zunächst einmal zu klären, wo du bleiben kannst. Wotruba hat mir versprochen, dass wir deine Sachen aus dem Pfarrhaus bekommen«, erklärte er im Rhythmus seiner Schritte. Szombathy blieb völlig unvermittelt stehen und kratzte sich am Hinterkopf. »Du kannst, wenn du willst, bei mir übernachten, bis wir dir ein Ticket gekauft und dich in den Flieger zurück nach Frankfurt gesetzt haben.«
Josephine war so schnell auf den Füßen und bei ihm, dass Gernot erschrocken einen Schritt zurück machte. »Sag mal, tickst du noch ganz richtig?« Sie tippte ihm mit dem Zeigefinger auf die Brust. »Mein bester Freund und seine Frau sind tot, zwei Typen wollten mich letzte Nacht wegen eurer Bubenfantasien ins Jenseits befördern, und du glaubst, dass ich mich jetzt so einfach in ein Flugzeug setze und wieder Business as usual an der Uni Frankfurt mache? Vergiss es, mein Lieber, so einfach wirst du mich nicht los! Jetzt hast du dir mich eingetreten. Ich bin der Dorn in deiner Sohle, bis wir wissen, wer unsre Freunde ermordet hat. Irgendwelche Einwände?«
Szombathy wich ihrem Blick aus, fuhr sich über den Bart und schüttelte den Kopf.
Mahler suchte erneut den Augenkontakt und deutete zur Tür. »Fein! Dann hol jetzt einen Doktor. Ich will nämlich hier raus!«
16
J osephine zog sich den Bademantel enger um die Brust. Sie trat barfuß und mit nassen Haaren aus dem Badezimmer und sah sich in der Wohnung um, die eigentlich aus zwei zusammengelegten Zweizimmerwohnungen bestand. Josephines Reisetasche stand seit ihrer Ankunft vor der Thonet -Garderobe im Flur und verströmte einen beißenden Brandgeruch. Abgesehen von dem Gestank schien alles perfekt. Josephine konnte auch nach all den Jahren noch immer kaum glauben, dass sie sich in einem Gemeindebau aus den frühen 1930ern direkt neben der Triesterstraße befand. In dem sozialen Wohnbau, der den Anfang einer Gartenstadt im Süden des Roten Wiens machen hätte sollen. Diese Wohnräume im Georg Washington-Hof hätten genauso gut nach Hietzing und Währing oder in sonst einen hochpreisigen Wohnbezirk gepasst. Schon als Mädchen hatte sich Josephine in der Wohnung der Szombathys gefühlt wie in einer völlig anderen Hemisphäre. Daheim bei ihren Eltern musste sie sich mit ihrer Schwester Zimmer und Stockbett teilen. Josephine musste lachen. Heute, als erwachsener Frau, ging es ihr nicht anders. Sie schlief zwar in keinem Etagenbett mehr, aber sie wohnte in Frankfurt in Zimmer/Küche. Für ganz bestimmt mehr oder gleichviel Miete.
Josephine blieb vor dem Porträt eines Mannes mit aufgezwirbeltem Bart und in goldverschnürter Uniform stehen. Zum ersten Mal fiel ihr die entfernte Ähnlichkeit mit Gernot auf. Wer war dieser Mann? Sie erinnerte sich an das Bild, aber nicht mehr daran, wen es darstellte.
»Das ist Ferencz«, erklärte Gernot, ohne Josephine anzusehen oder gefragt worden zu sein. Er schlüpfte vorbei in die Küche.
»Wer?« Josephine machte einen Schritt zur Seite.
»Mein Urgroßvater. Rechtsanwalt und Rittmeister der Kavallerie. Aus Budapest.« Gernots Kopf guckte einen Moment aus der Küche, dann war er wieder verschwunden. »Du hast sicher Hunger! Ich mach dir eine Kleinigkeit.«
»Wem die Ungarn ihr Herz öffnen, dem decken sie den Tisch«, flüsterte Josephine. »Das hat deine Mutter immer gesagt, als ich bei euch zu Besuch gewesen bin, weißt du noch?«, rief sie lauter in Richtung Küche. »Wem die Ungarn ihr Herz öffnen, dem decken sie den Tisch! – Und sofort hat sie mir ein paar Brote geschmiert. Erinnerst du dich?« Nach einer Weile hörte sie Gernot zustimmend brummen.
Kurz darauf knallte Gernot das Backrohr zu. »Ich bin kein Ungar. Ich bin Wiener!«, sagte er. »Meine Großeltern sind Ungarn gewesen. Oder zumindest haben sie das gedacht.«
Durch die Fenster im Wohnzimmer konnte Josephine die Spinnerin am Kreuz sehen, die gotische Bildsäule, das Wahrzeichen Favoritens. Sie schüttelte den Kopf und ließ die Finger über das intarsierte Holz des Tabernakelschranks gleiten. Sie drehte sich um und zuckte zusammen. Schräg vis-à-vis an der Wand hing ein riesiger Flachbildfernseher. Den hatte es früher nicht gegeben, nur einen klobigen Kasten aus Holzimitat mit Druckknöpfen und tiefer Bildröhre. Jetzt bemerkte sie all das Neue ringsherum, die Technik, und
Weitere Kostenlose Bücher