Macht: Thriller (German Edition)
Ehepaars Gerber und das Kratzen des Stiftes waren zu hören.
»Wie geht es Ihnen?«, unterbrach Josephine nach geraumer Zeit das Schweigen.
»Danke, es geht.« Frau Gerber schnäuzte sich. »Josephine, wir haben eine Bitte an Sie. Sie können auch jederzeit › Nein ‹ sagen.«
Josephine richtete sich auf. Einleitungen wie diese hatten es in sich. In der nachfolgenden Frage ging es ans Eingemachte, und eine Ablehnung als Antwort war in Wahrheit nie eine Option.
»Mein Mann und ich können nicht zurück in unser Haus. Die Polizei gibt es noch nicht frei.« Oma Gerber schluckte und schnäuzte sich abermals. »Wir können solange zu Freunden. Aber das Kind – das Kind können wir dahin nicht mitnehmen. Das sind auch alte Leute.«
»Frau Gerber«, begann Josephine und war auf der Hut. »Ich wohne in Frankfurt. Mein Urlaub ist zu Ende, und ich muss zurück an die Uni. Wenn mir Chefinspektor Wotruba die Erlaubnis dazu gibt – und nach unsrem letzten Gespräch, meine ich, er tut es – kehre ich in mein Leben zurück.«
»Bitte!« Oma Gerber ergriff Josephines Hand. »Ich habe gesehen, wie gut Sie sich mit Lilly verstehen. Sie vertraut Ihnen, und ich weiß, Sie lieben das Kind. Bitte, nehmen Sie sie mit nach Frankfurt! Wir geben Ihnen unsre Erlaubnis, wenn Sie wollen auch schriftlich. Sie hat doch sonst niemanden mehr!«
»Und was ist mit Ihnen?« Josephine verschränkte die Arme vor der Brust.
»Wir können nicht mehr!« Opa Gerber biss sich auf die Lippen.
Oma Gerber ergriff wieder das Wort: »Sie und Gernot können das Kind beschützen. Wir sind schon alt und gebrechlich. Alt und am Ende.«
»Gernot und ich?« Josephine zog die Augenbrauen hoch und lachte auf. Dafür, dass die beiden so gebrechlich waren, sahen sie eigentlich noch ziemlich fit und agil aus.
»Ja, sind Sie beide denn nicht …? Haben Sie jemand anderes in Frankfurt?«
Josephine schüttelte den Kopf. »Nicht, dass ich wüsste.«
»O, Gernot ist so ein netter Mann. Er würde so gut zu Ihnen passen.«
»Bitte! Das ist ja wohl ganz alleine meine Angelegenheit.« Josephine schob die Unterlippe vor. Frau Gerber hatte gerade die dünne rote Linie übertreten.
»Ja, Sie haben Recht. Entschuldigung!« Frau Gerber ließ den Kopf hängen und verdrehte ihr Taschentuch. Nach ein paar Sekunden nahm sie den Faden wieder auf: »Gernot kann sehr gut mit dem Kind. Und er kann Lilly beschützen, Sie haben es ja erlebt. Das war schon immer so. Wissen Sie, als er ein frischgebackener Leutnant gewesen ist, sind wir mit den Kindern und ihm in den Prater. Lilly wollte mit dem Karussell fahren, also hat er ihr eine Karte gekauft und sie in den Schwan gesetzt. Den, auf den sie immer mit ihren Patschehändchen gezeigt hatte. – Plötzlich ist eine andere Mutter gekommen, hat Lilly aus dem Schwan gehoben und ihr eigenes Kind hinein gesetzt. Sie wissen ja, wie Lilly ist, hat sich nicht gewehrt die Kleine, nicht mal geweint hat sie. O Gott, wir hätten auf die Zeichen hören sollen –« Sie hielt sich die Hand vor den Mund. »Wo war ich stehengeblieben? Ach ja: Gernot ist in voller Ausgehuniform über die Absperrung und hat Lilly zurück in den Schwan ….« Oma Gerber konnte nicht mehr weiter. Sie zog die Mundwinkel nach unten und sah hinauf zur Decke. »Entschuldigung …«
»Aber wir sähen Lilly lieber bei Ihnen«, schaltete sich Herr Gerber wieder ein und tätschelte die Hand seiner Frau. »Haben Sie eine Vorstellung davon, wie es ist, so kurz hintereinander seine Tochter und seinen Schwiegersohn zu verlieren? Und auf solche Weise? Nein, das haben Sie nicht! Können Sie gar nicht. Und dann dieses Kind –«
»Verstehen Sie uns bitte nicht falsch, wir lieben unsere Enkelin«, unterbrach Oma Gerber und warf ihrem Mann einen strengen Blick zu. »Es ist jetzt schon um so viel besser! Seit der Therapie lässt sie sich wenigstens von uns anfassen. Aber sie redet nicht, sie deutet nichts. Trotzdem weiß sie immer über alles Bescheid! Manchmal ist sie wie ein Spuk … Mein Mann sagt dann immer, wenn nichts rauskommt, heißt das ja noch nicht, dass nichts reingeht. – Dabei war sie so ein süßes, so ein liebes Baby …« Sie schnäuzte sich.
Bei aller Anteilnahme, ich lasse mir hier doch keine Schuldgefühle von euch aufschwatzen, Lilly ist euer Enkelkind, dachte Josephine, zog es aber vor, den Mund zu halten. Sie drehte sich nach Lilly und ihren Zeichnungen um. Der alte Gerber hatte ihrer Einschätzung nach ganz Recht mit seiner Beobachtung. Dass gar nichts
Weitere Kostenlose Bücher