Machtkampf
blätterte in seiner Akte. »Es soll am 16. September gewesen sein, dem Tag, als die Erstklässler ihre zweite Religionsstunde hatten.«
Karin Stenzel hatte sich nach dem vorausgegangenen Telefonat mit Wissmut ebenfalls entsprechende Unterlagen besorgt. »An diesem Tag war Herr Kugler im Haus. Das stimmt.«
»Herr Kugler unterrichtet aber schon seit einem Jahr an Ihrer Schule?«
»Seit Beginn des vorigen Schuljahres, ja. Und ich kann Ihnen sagen, dass es zu keiner Zeit irgendwelche Beanstandungen gegeben hat. Auch bei den Elternabenden war der evangelische Religionsunterricht niemals ein Thema.«
Wissmut machte sich einige Notizen. »Auch nach diesem 16. September – das ist ja jetzt gerade erst rund zwei Wochen her – ist Ihnen nichts zu Ohren gekommen, was diese Anschuldigung hier …«, er deutete auf seine Schriftstücke, »… erklären könnte?«
»Nein. Deshalb hat mich Ihr Anruf gestern ja auch völlig überrascht.«
Wissmut staunte über ihren emotionslosen Tonfall. Aber vermutlich war dies ihre persönliche Art, Schwierigkeiten von ihrer Schule abzuwehren.
»Dieser Manuel, um den es da geht: Wie würden Sie das Kind einschätzen?«
Sie holte tief Luft. »Zurückgeblieben in der Entwicklung, würde ich sagen. Introvertiert. Kontaktarm.«
»Unterrichten Sie ihn selbst?«
»Ja, auch.«
»Würden Sie sagen, er ist verhaltensgestört?«
»In gewissem Grade, ja. Auffällig auf jeden Fall. Denn es gab schon Momente, da hat er sich in den Vordergrund spielen wollen. Als Klassenkasper. Das haben wir oft bei Kindern, denen ansonsten Anerkennung versagt bleibt.«
Wissmut hatte eine solche Aussage erwartet. Sie bestätigte seine Erfahrungen, die er bei unzähligen Ermittlungen im Umfeld zerrütteter Familien gewonnen hatte. »Haben Sie auch Kontakt zu Manuels Eltern?«
»Nur zur Mutter. Ich hab sie vor eineinhalb Wochen zu einem Gespräch gebeten. Sie war dann auch kurz hier. Aber mir scheint, als sei die Frau mit ihrer Mutterrolle hoffnungslos überlastet. Sie hat eine ziemlich anstrengende Arbeitsstelle und der Vater will von dem Kind nichts wissen. Er bezahlt angeblich den Unterhalt, hat aber das Sorgerecht ihr überlassen.«
»Er wohnt aber auch hier im Ort«, stellte Wissmut fest.
»Ja, nach wie vor. Er hat allerdings seine Landwirtschaft aufgegeben. Man munkelt, er wolle auswandern. Aber ob seine finanziellen Verhältnisse dies zulassen, wage ich persönlich zu bezweifeln.«
Wissmut räusperte sich. Obwohl ihn Hartmanns Tod nur am Rande interessierte, wollte er die Gelegenheit wahrnehmen, das Thema trotzdem anzusprechen. »Wie man so hört, sorgt auch der Selbstmord vom Dienstag für eine gewisse Unruhe im Dorf.«
»Wieso denn Unruhe?« Karin Stenzels Gelassenheit schien plötzlich wieder einer inneren Anspannung zu weichen. »Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Der Selbstmord einer bekannten Person ist immer Anlass für Gerede. Behelligen Sie mich jetzt bitte nicht auch noch damit.«
Wissmut rief sich Linkohrs gestrige Schilderungen seines Besuchs bei der Schulleiterin in Erinnerung. Der bei Hartmann aufgefundene Schlüssel hatte sie offenbar ziemlich aus der Fassung gebracht. »Ich weiß, dass mein Kollege bereits mit Ihnen darüber gesprochen hat …«
»Wegen des Schlüssels«, fiel sie ihm gleich ins Wort. »Und ich habe Ihrem Kollegen nahegelegt, deswegen keine Verbindungen mit der Schule herzustellen. Dabei sollte es bleiben, Herr Wissmut.« Sie sah ihn herausfordernd an. Ihre Augen blitzten gefährlich.
Wissmut lehnte sich zurück, als bemerke er ihre veränderte Stimmungslage nicht, die er bewusst provoziert hatte.
Er fuhr ruhig fort: »Herr Hartmann scheint in Rimmelbach einen gewissen Einfluss gehabt zu haben.«
»Was heißt Einfluss, Herr Wissmut! Er war ein tüchtiger Geschäftsmann, der hier in Rimmelbach einige Großbauern als gute Kunden hatte, und er war – auch das ist kein Geheimnis – ein Jagdfreund von Herrn Mompach …«
»… der wiederum hier im Ort ziemlich einflussreich ist«, ergänzte Wissmut, der sich über die Verhältnisse bereits ausführlich informiert hatte. »Stellvertretender Bürgermeister, stellvertretender Vorsitzender des Kirchengemeinderats und so weiter.« Er lächelte liebenswürdig. »Auch Sie gehören dem Gemeinderat an.«
»Was wollen Sie damit sagen?« Frau Stenzel war kurz davor, erneut die Fassung zu verlieren.
»Gar nichts. Ich meine nur, es ehrt Sie, wenn Sie sozusagen als Zugezogene so schnell das Vertrauen der
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