Machtkampf
die Grundschule war. Weshalb hatte Hartmann diesen Schlüssel? Und weshalb ist das dieser Rektorin … Wie heißt sie noch mal?« Häberle begann, in seinen Notizen zu blättern.
»Stenzel«, erwiderte Linkohr, »Karin Stenzel.« Sie war ihm nicht nur des etwas schwierigen Gesprächs wegen in Erinnerung geblieben, sondern darüber hinaus, weil sie ihm trotz allem ziemlich sympathisch erschien.
»Ja, warum ist ihr dies so unangenehm. Wir sollten die Dame auch mal fragen, warum sie erst kürzlich mit Hartmann telefoniert hat«, fuhr Häberle fort.
Linkohr nickte. Als er bei ihr gewesen war, hatten sie die Telefonverbindungsdaten noch nicht ausgewertet. »Aber ich befürchte, dass sie nicht gerade erfreut reagieren wird und wir ziemlich schnell Ärger mit dem ›Losta‹ kriegen werden.«
Häberle wusste, dass diese Konfrontation nicht zu vermeiden war.
»Das war’s dann wohl«, gab sich Kugler geschlagen, als er an diesem Morgen einige Kartons in den Kofferraum seines Mercedes stopfte, der vor der Pfarrhaustür parkte. Während die Glocken der nahen Kirche zum Erntedankgottesdienst läuteten, packten er und Franziska die wichtigsten Kleidungsstücke und Utensilien zusammen, um Rimmelbach so schnell wie möglich den Rücken zu kehren. Sobald sie irgendwo, möglichst weit entfernt, eine passende Wohnung gefunden hatten, würden sie umziehen. Bis dahin kamen sie bei Franziskas Schwester unter, die zusammen mit ihrem Mann ein geräumiges altes Bauernhaus in Halzhausen bewohnte, einem kleinen Ort etwa 15 Kilometer entfernt, direkt an der Bahnlinie Stuttgart-Ulm.
Kugler wollte sich dorthin für die nächsten Wochen und Monate zurückziehen. Vielleicht, so hämmerte es in seinem Kopf, waren es die letzten schönen Tage seines Lebens. Denn wenn sie ihn für schuldig befänden, drohte ihm das Gefängnis. Möglicherweise käme er in den sogenannten Seniorenknast nach Singen am Hohentwiel. In den zurückliegenden schlaflosen Nächten hatte er sich bereits albtraumartig ausgemalt, wie er dort, in der schönen Gegend unweit des Bodensees, viele Frühjahre und Sommer lang eingesperrt sein würde. Auch wenn sie ihn nach zwei, drei Jahren wieder freiließen, wäre nichts mehr, wie es einmal war. Ob Franziska dann noch zu ihm hielt? Und ob er selbst diese Torturen überstehen würde?
Sein Gesprächspartner beim Oberkirchenrat hatte ihm gestern in mehreren Telefonaten zugesichert, dass er ›zunächst‹ keinerlei berufliche Nachteile zu befürchten habe. Die Entscheidung, ihn mit sofortiger Wirkung in den vorläufigen Ruhestand zu versetzen und ihm nahezulegen, Rimmelbach schnell zu verlassen, sei auch zu seinem eigenen Schutze erfolgt. Natürlich dürfe er seinen Hausrat noch im Pfarrhaus belassen, zumindest so lange, wie er nicht rechtskräftig verurteilt worden sei.
›Rechtskräftig verurteilt‹, hallte es in seinem Kopf nach, als er einen Koffer aus dem Haus trug und auf dem Rücksitz des Mercedes verstaute. Der Kofferraum war inzwischen voll bepackt. Rechnete man also schon damit, dass er ›rechtskräftig verurteilt‹ würde?
Wie viele Gebete hatte er in den vergangenen Tagen zum Herrgott geschickt? Dabei war es ihm schwergefallen, demütig zu bleiben und nicht den Schöpfer anzuzweifeln, dem zuliebe er aus vollster Überzeugung Pfarrer geworden war. Warum aber konnte er keinen Frieden finden? Warum wurde er schon wieder dort herausgerissen, wo er geglaubt hatte, seine Erfüllung gefunden zu haben? Wurde ihm der Frieden in diesem Leben versagt? Fand er ihn erst, wenn er sich selbst von allem befreite?
Als er die Klappe des Kofferraums einrasten ließ, glaubte er zu spüren, dass er nie wieder an diesen Ort zurückkehren würde.
Die Glocken hatten aufgehört zu läuten, als er sich hinters Steuer setzen wollte, um auf Franziska zu warten, der der Abschied von der Wohnung besonders schwerfiel.
Noch während er die Fahrertür öffnete, bemerkte er eine ältere gebückte Frau, die auf dem Weg zur Kirche an ihm vorbeikam. Sie hielt kurz inne und sah zu ihm auf. Sie war schwarz gekleidet, ihr Gesicht faltig und gelb. »Es ist eine Schande, was man mit Ihnen macht, Herr Pfarrer«, sagte sie mit schwacher Stimme.
Kugler drehte sich zu ihr und legte eine Hand auf ihre Schulter. Er kannte die Frau. Sie war erst vor Kurzem 90 Jahre alt geworden. Er hatte sie deshalb besucht und lange mit ihr über Gott und die Welt geredet.
»Die Welt ist schlecht geworden«, sagte er und sah in ihre wässrigen Augen. »Wir dürfen aber
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