Machtlos
echtes, lebendiges Wesen zeigen konnte und begeistert erzählte.
Victoria hatte verwundert bemerkt, dass Lexia sie gewähren ließ und langsam begann, ihre Dienerin mit anderen Augen zu sehen. In ihrer Jugend hatte die Goldene offenbar gelernt, dass man durch stilles Beobachten manchmal mehr erfahren konnte als durch gezielte Fragen. Hier gab es keine Konkurrentinnen, die sie ausstechen musste, also hatte sie beschlossen, sich die Passivität zu leisten.
„Hey, Vici!“, rief Kerstin plötzlich entrüstet, „Ich hatte dich fast! Nicht einfach wieder abschirmen. Jetzt muss ich von vorn beginnen…“
„Oh, sorry“, entschuldigte sich Victoria. „Ich habe gar nicht bemerkt, dass ich die Vorhänge wieder zugezogen habe. Irgendwie ist das voll ungewohnt, wenn ich mich nicht abschirme…“ Sie öffnete ihren Geist erneut.
„Dann konzentriere dich eben ein bisschen mehr“, meinte Kerstin augenzwinkernd. „Muss ich ja schließlich auch.“
Victoria lächelte und ließ die Gedanken erneut treiben.
Hoggi hatte festgestellt, dass die Steine noch jung waren und wohl aus der Zeit vor den Torkriegen stammen mussten. Sie waren also gerade mal acht- oder neunhundert Jahre alt. „900 Jahre als jung bezeichnen, das kann auch nur Hoggi! An das Zeitgefühl von dem alten Zausel werde ich mich wohl nie gewöhnen – für mich sind die Siebziger ja schon Urzeiten her“ , dachte Victoria amüsiert.
Jedenfalls vermutete Hoggi, dass die Ruine ein kleiner Tempel gewesen war. Daraufhin hatte Victoria Tujana gebeten, ihre Vision zu zeigen und ihr Mentor hatte beeindruckt bemerkt, dass die Grüne damit vermutlich recht nah an der Wirklichkeit war.
Schließlich hatte er sich glücklich lächelnd umgedreht und in seinen Bart gemurmelt: „Wir finden deine alte Gestalt, da bin ich mir ganz sicher. Kommt her, meine Steine, ich kitzle euer Geheimnis schon heraus.“ Dabei hatte er liebevoll einen der hellen Steine getätschelt und emsig mit der Arbeit begonnen. Die anderen um sich herum hatte Hoggi zu dem Zeitpunkt bereits ganz vergessen.
„Tja, Hoggi kann man wirklich sehr einfach eine Freude machen“ , dachte Victoria lächelnd. Dann seufzte sie. „Ganz im Gegenteil zu Jaromir. Er hat einfach alles. Was soll ich ihm bloß zum Geburtstag schenken. Mir fällt echt nichts ein und dabei muss ich mich beeilen, denn ich habe nur noch drei Tage. Jetzt zermartere ich mir schon seit Wochen mein Hirn und es kommt nichts dabei raus… Er überhäuft mich mit großartigen Geschenken und was bekommt er von mir? Eine CD? Ein Schachspiel? Ein Buch mit Matherätseln? Alles sinnlos… Und eine Hilfe ist er mir auch nicht gerade. Als ich ihn das letzte Mal gefragt habe, was er sich wünscht, hat er mich nur angesehen und meinte: «Solange du bei mir bist, habe ich alles, was ich will.» Na toll! Ich werde IMMER bei ihm sein. Und was soll ich ihm jetzt schenken?“
„Ich hab’s“, rief Kerstin.
„Oh, herzlichen Glückwunsch.“
„Nein! Das meine ich doch gar nicht“, widersprach Kerstin.
„Hast du meine Gedanken nicht gefunden?“, fragte Victoria verwirrt.
„Doch, hab ich. Aber vor allem habe ich eine Idee, was wir unseren Jungs schenken können“, erklärte Kerstin ganz aufgeregt. „Lenir hat auch am Freitag Geburtstag – sie sind doch am selben Tag geschlüpft.“
„Ja, stimmt.“ Das hatte Victoria ganz vergessen. „Und was willst du ihm schenken?“
„Da unsere beiden Liebsten alles haben können, was Geld kaufen kann, lassen wir uns was anderes einfallen.“
„Das ist ja gerade mein Problem! Ich kann weder toll singen, noch basteln, noch sonst was – außer Mathe vielleicht. Aber, was soll ich…“
„Wir lassen uns tätowieren!“, unterbrach Kerstin Victoria mit leuchtenden Augen.
„Tätowieren?“ Victoria war fassungslos. „Ich weiß nicht recht…“
„Doch“, beharrte Kerstin. „Sieh doch mal her.“
Sie tippt sich an die Stirn und Victoria sah in ihren Gedanken das Tattoo eines athletischen, schwarzen Drachens auf ihrem linken Schulterblatt.
Victoria musste zugeben, dass das echt cool aussah.
Kerstin bekräftigte: „Das habe ich schon lange vor. Mir fehlte nur das richtige Motiv. Und jetzt passt es perfekt: Die beiden wollen einfach nur uns. Da sie uns schon haben – aber so was von! – können wir ihnen eben nur zeigen, dass wir sie auch wollen und zwar so, wie sie wirklich sind. Glaubst du nicht, dass den beiden das gefallen könnte?“
Kerstin hatte recht, aber Victoria blieb skeptisch,
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