Machtlos
Angsthase?“, fragte Victoria provokativ.
Lenir legte nachdenklich den Kopf schief. „Angsthase würde ich nicht gerade sagen, aber … «Schisser» würde schon hinkommen!“ Lenir grinste übermütig und rückte vorsichtshalber etwas auf Abstand.
„Hey, nicht frech werden, ja?“, forderte Victoria lachend mit erhobenem Zeigefinger. Sie war froh, dass Lenir endlich wieder zu seiner alten Leichtigkeit zurückgefunden hatte.
„Das würde ich doch nie wagen“, gab der Schwarze mit gespieltem Ernst zurück. „Allerdings könntest du uns helfen.“
„Genau“, schaltete sich Kerstin ein. „Ich kann endlich Gedanken lesen. Jedenfalls klappt es bei Lenir. Jetzt könnte ich noch andere Freiwillige zum Üben brauchen…“
„Klar helfe ich dir“, antwortete Victoria, „Lass uns das gleich nächste Woche machen. Dann haben wir auch endlich mal wieder Zeit, uns in aller Ruhe zu unterhalten“ , dachte Victoria bei sich.
39. Aua!
Am nächsten Dienstag hatte sich Victoria Zeit für Kerstin freigehalten. Mandolan war nicht begeistert gewesen und hatte gemeint, dass doch auch jemand anderes Kerstin beim Üben helfen könne. Victoria hätte ohnehin mit den Audienzen und der Hochzeitsvorbereitung so viel zu tun, dass ihr eigener Unterricht aus seiner Sicht viel zu kurz kam.
Victoria ignorierte sein Gejammer und bestand darauf. „Ach, Mandolan“, hatte sie freundlich gesagt, „das ist einfach wichtig für Kerstin und mich. Wir sind Freundinnen. Sie vertraut mir und sie braucht jetzt jemanden, der sie versteht und weiß, wie unfassbar die Veränderungen in ihrem Leben sind. Abends sind wir viel zu müde für so was und die Wochenenden sind auch immer voll. Außerdem will ich Kerstin nicht so lange warten lassen.“
Murrend hatte Mandolan seinen Stift gezückt und eine Audienz verlegt. Jetzt saßen die beiden jungen Frauen bei Jogi-Tee und Obstkuchen in Victorias Salon.
Jaromir und Lenir hatten Narex an die Uni begleitet. Offiziell wollte Jaromir seinen neuen Assistenten vorstellen, schließlich würde in knapp anderthalb Wochen die neue Vorlesungszeit anfangen. Tatsächlich aber wollten die drei das Tor noch einmal examinieren.
Die Mädels unterhielten sich während des Essens. Victoria steckte sich gerade ein Stück Zwetschenkuchen in den Mund und kaute genüsslich. Alberts Variation war echt die weltbeste.
Kerstin kaute ebenfalls grinsend und meinte dann: „Du musst aber gleich deine Gedankenvorhänge öffnen, sonst sehe ich nichts.“
Victoria nickte und tat wie geheißen. Sie fühlte sich regelrecht nackt, so sehr hatte sie sich in den letzten Monaten an die konsequente Abschirmung ihres Geistes gewöhnt. „Soll ich an etwas Bestimmtes denken, oder vielleicht rufen?“
„Nein“, widersprach Kerstin bestimmt, „ich will möglichst realistische Bedingungen haben. Ich habe das beim letzten Cliquentreffen auch schon versucht, aber ich musste mich so konzentrieren, dass ich gar nicht mehr auf das Gespräch achten konnte, also habe ich’s lieber gelassen.“
Victoria nickte lächelnd. „Gut, dann denke ich jetzt also einfach mal vor mich hin.“
Spontan kam ihr der Sonntagabend in den Sinn. Da war sie zusammen mit Tujana, Lexia, Hoggi und natürlich Jaromir bei der Ruine im Park gewesen. Wie erwartet war der Weiße ganz aus dem Häuschen gewesen, als er die alten Steine sah. Aufgeregt war er zwischen zwei Mauerfragmenten hin- und hergelaufen, hatte sich die verstreut liegenden, kunstvoll behauenen Steine genau besehen und begeistert vor sich hin gemurmelt. Schließlich war er in der Mitte stehengeblieben, hatte sich verwirrt am gepflegten Bart gekratzt und Jaromir fast schon vorwurfsvoll gefragt, warum die Ruine bislang nie entdeckt worden sei.
Tujana hatte gelacht und erklärt, dass ein Dachs bei Arbeiten an seinem Bau auf einen der Steine gestoßen sein musste und ihn wohl ans Tageslicht befördert hatte. Jedenfalls hatten sie und Victoria zunächst nur den einen blank polierten Stein gefunden, als das merkwürdige Glitzern sie ins Unterholz gelockt hatte. Die Grüne hatte schnell die anderen Steine im Erdreich gespürt und beschlossen sie freizulegen.
Victoria war bei dem Bericht aufgefallen, dass Tujana nach und nach ihre Zurückhaltung aufgeben konnte. Wenn sie Lexia diente, war sie in ihrer alten Rolle und man bemerkte sie kaum, aber ansonsten taute sie immer öfter auf und wurde regelrecht sichtbar. Heute war Lexia zwar dabei, aber sie hielt sich im Hintergrund, so dass Tujana ihr
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