Machtlos
natürlich genau, was passiert war, aber sie ließ ihrer Freundin die Zeit, die sie brauchte. Sie winkte der Bedienung und bestellte zwei Sake.
Nachdem sie den Schnaps getrunken hatten, seufzte Kerstin und begann: „Also eigentlich kann Alex gar nichts dafür – ich bin Schuld. Ich allein hab‘s voll verbockt!“
Victoria lächelte. „Nun mal langsam und von Anfang an: Was sollst du verbockt haben?“
Kerstin guckte sie gequält an. „Ach, Vici! Ich liebe Alex – ehrlich! Aber … seit zwei Monaten muss ich ständig an einen anderen denken.“
Victoria konnte überdeutlich sehen, wer das war: Lenir! Selbst jetzt, wo Kerstin ihn fast drei Wochen lang nicht zu Gesicht bekommen hatte, ging er ihr nicht aus dem Kopf. Ganz im Gegenteil. Sie sehnte sich von Tag zu Tag mehr nach ihm und dachte ernsthaft darüber nach, ihn in Oslo zu besuchen. Dort hielt sich Lennard Langlo nämlich offiziell seit Beginn der Semesterferien auf.
Victoria runzelte die Stirn. „Eigentlich hätte sie ihn langsam vergessen müssen – so soll es jedenfalls bei all den anderen Frauen gewesen sein, die in Lenir bisher verschossen waren. Das begreife ich nicht, denn Kerstin liebt Alexander wirklich – das spüre ich genau.“
Auch wenn sie die Antworten alle schon kannte, fragte sie: „Und hattest du was mit dem anderen?“
Kerstin schüttelte den Kopf. „Das kann ich nicht tun! Ich finde das so ja schon schlimm genug.“
Victoria legte den Kopf schief und fragte vorsichtig: „Und würdest du gern was mit dem anderen haben?“
Jetzt sah Kerstin richtig elend aus. Sie druckste herum: „… Nein!... Doch – ja. … Ach, Scheiße! Ich weiß gar nichts mehr. Mein Kopf ist ganz leer.“
Wieder legte Victoria die Hand auf Kerstins Arm. „Ach, Süße. Du bist nicht die erste, die in einer Beziehung mit jemandem steckt und sich neu verliebt. Im Nachhinein stellt sich dann meist heraus, dass die erste Beziehung doch nicht so glücklich war.“
Nun brach es aus Kerstin heraus: „Aber das ist es ja gerade! Ich LIEBE Alex noch immer! Ich kann nichts an ihm aussetzen. Klar, er hat die eine oder andere Macke, aber die stören mich alle nicht wirklich. Ich finde Alexander interessant, sexy und vor allem: Er ist mein bester Freund! Ich verstehe es nicht. Ich verstehe es einfach nicht! Warum geht mir dieser blöde Kerl denn bloß nicht aus dem Kopf?! Ich raff es nicht – echt nicht!“
Die Heftigkeit von Kerstins Worten überraschte Victoria. Ihre Freundin fühlte sich dem Ganzen völlig ausgeliefert.
Dann fuhr Kerstin auch schon leise fort: „Ich habe – noch! – keine Dummheit gemacht. Aber immer, wenn ich mit Alex zusammen bin, wünschte ich, es wäre…“ Sie stockte, dann gab sie sich einen Ruck. „Ach, es ist sowieso scheißegal. Du kennst ihn! Du bist bestens mit ihm befreundet. … Es ist … Lennard.“
Sie schwieg und ließ dem Kopf hängen.
„Ich weiß“, sagte Victoria leise.
Kerstin sah sie erstaunt an. „Aber ich habe mich so zusammengerissen! Ich…“
Victoria lächelte schief. „Kerstin, ich habe Augen im Kopf. Du konntest den Blick kaum von ihm lassen und als du mitbekommen hast, dass er was von mir will, wärst du mir am liebsten an die Gurgel gegangen, selbst nachdem ich dir erzählt habe, dass ich nicht an ihm interessiert bin.“
Kerstin warf deprimiert den Kopf in den Nacken und stöhnte: „Na super! Kein Wunder, dass Alex was mitgekriegt hat. Das ist nämlich das Problem. Er wirft mir vor, dass ich «abwesend» bin. Bevor ich hierher kam, hat er genau das zu mir gesagt: «Kerstin – du bist gar nicht mehr bei mir! Was ist los? Was bedrückt dich? Oder hast du einen anderen?» Genau das hat er mich gefragt. Aber ich habe doch keinen anderen! Ich will das doch gar nicht! … Ich war doch glücklich mit Alexander. Ich war glücklich mit ihm, bis Lennard vor mir stand… Oh Mann, Victoria – ich muss sogar an Lennard denken, wenn ich mit Alex schlafe.“
Die letzten Worte hatte Kerstin geflüstert und Victoria konnte ihre Qual spüren. Sie legte ihren Arm tröstend um ihre Freundin.
Ihr kam ein leiser Verdacht. Jetzt, wo sie überlegte, bemerkte sie, dass Lenir ihr aus dem Weg ging, seit er wusste, dass sie Gedanken lesen konnte, selbst wenn diese abgeschirmt waren. „Sollte Lenir tatsächlich…?“ Das musste sie unbedingt überprüfen!
Dann sagte sie leise: „Hey, Kerstin. Du hast versucht, Lennard aus deinem Kopf zu kriegen. Dass es nicht geklappt hat, dafür kannst du nichts.“
Kerstin
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