Machtlos
wahr, „Linea ist da. Wir sollten sie nicht warten lassen.“
„Was?“, fragte Victoria desorientiert. Schließlich begriff sie, wo sie war und stand auf. „Ja, natürlich…“
Kerstin und Lenir sahen sie besorgt an. Victoria driftete seit dem Koma mit ihren Gedanken häufig weit ab. Manchmal saß sie direkt neben ihnen, war aber trotzdem gar nicht da.
Victoria lächelte und zwinkerte den beiden zu. „Ich werde mich mehr zusammenreißen, versprochen…“
Ihre Freunde lächelten aufmunternd zurück, doch die Sorge blieb.
Linea erwartete Victoria und Jaromir in deren Schlafzimmer. Sie landete immer genau auf dem wunderschönen Bodenmosaik, das Tujana im Herbst entworfen hatte. Es war sehr einprägsam und bestand aus kunstvoll verschlungenen Blumen. Victoria liebte das Mosaik und konnte sich noch immer kaum daran sattsehen. Linea verwendete es als Sprungmarke, wie die Gefährtin im Geist der Heilerin sehen konnte. Ohne dieses markante Muster wäre der Sprung beim ersten Mal ein großes Risiko für sie gewesen, da das Schlafzimmer zwar groß war, aber für ein unbekanntes Ziel aus den Nebeln dann doch wieder klein. Das Turmzimmer, was eigentlich diesem Zweck diente, hatte sie nicht anfliegen wollen, da sie ihren Besuch so diskret wie möglich machen wollte.
Lineas Drachenpräsenz füllte das Zimmer mit Ruhe und Frieden. Ihre schillernden Schuppen reflektierten das Licht und ließen es in bezaubernden, grün leuchtenden Mustern über die hellen Wände tanzen.
„Hallo Linea“, begrüßte Jaromir die Heilerin und auch Victoria hob ihre Hand.
„Guten Abend, Victoria, guten Abend, Jaromir“ , grüßte Linea zurück. Sie lächelte und folgte Victorias Blick auf das Mosaik. „Wusstest du, dass das alles Pflanzen sind, die in der richtigen Verarbeitung für einen guten und erholsamen Schlaf sorgen?“
Victoria schüttelte ihren Kopf. „Nein, das wusste ich nicht. Tujana ist wirklich außergewöhnlich. Dann versteht sie also doch etwas von Heilung?“
Linea nickte. „Eine Grundausbildung erhält jede Grüne, so wie jeder Schwarze die Grundlagen der Tore vermittelt bekommt. Tujana ist begabt und lernt schnell, doch ihr Herz schlägt in Wahrheit fürs Gestalten.“
Sie lächelte und Belustigung funkelte in ihren Augen. „Sie will die Seuchenstation umgestalten. «Gerade wenn man erkrankt ist, muss sich die Seele an etwas erfreuen», sagt sie. Einen Raum hat sie schon fertig. Ich hätte nie gedacht, dass ein paar Zauber und etwas Farbe so viel bewirken können. Doch es funktioniert. Die Patienten jedenfalls fühlen sich sehr wohl…
Aber jetzt bin ich neugierig, wie es dir geht, Victoria. Was hat sich in den letzten zwei Tagen getan?“
Victoria berichtete und Jaromir ergänzte hier und da etwas. Dann untersuchte Linea sie eingehend.
Schließlich lächelte die Grüne zufrieden und meinte: „Die Meridiane sehen gut aus. Ich denke, wir sollten einen ersten Versuch wagen.“
Jaromir hielt die Luft an und Victoria fragte tonlos: „Ich soll zaubern?“
Linea nickte ruhig.
Victorias Herz schlug auf einmal heftig und ihr Mund wurde ganz trocken. „Bist du wirklich sicher? Was ist, wenn die Barrieren wieder aufreißen…“ Allein der Gedanke entfachte brennendes Entsetzen in ihr.
Doch Linea blickte sie ermutigend an und erstickte ihre Panik. „Ich bin hier. Und Jaromir ebenfalls. Wir werden dafür sorgen, dass die Magieströme nicht außer Kontrolle geraten. Außerdem zauberst du doch schon seit zwei Tagen wieder – denk an das Gedankenlesen. … Es wird gut gehen. Dir wird nichts passieren.“
Victoria wurde von einer Zuversicht durchströmt, die nicht aus ihrem Inneren stammen konnte. Sie nickte. „Und was soll ich machen?“
„Luftmagie ist für den Anfang nicht schlecht… Bewege die Vorhänge ein wenig, aber streng dich nicht zu sehr an.“
Victoria sah unsicher zu ihrem Gefährten.
Jaromir hatte sich gefasst und lächelte aufmunternd. „Das klappt schon, Kleines. Linea und ich passen auf dich auf.“
Victoria atmete tief durch und nickte entschlossen. Dann sammelte sie konzentriert Magie aus der Umgebung und bewegte die Luft behutsam gegen die Vorhänge.
Plötzlich flatterte der lange Stoff wie wild im Zimmer herum und zerrte wütend an den Gardinenstangen. Klirrend fiel ein Tonweihnachtsmann zu Boden und ging zu Bruch. Dann endete der Wind abrupt.
Erschrockenes Schweigen. Noch immer segelten etliche Papierengel geräuschlos durch die Luft und landeten einer nach dem anderen leise
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