Machtlos
Distanzierungszauber konnte er kaum noch aufrechterhalten. Lenir spürte, dass Kerstin in ernster Gefahr war und wehrte sich instinktiv gegen die erzwungene Ruhigstellung. Und zwar massiv!
„Du bringst uns beide um“, zischte Jaromir gepresst.
Lenir zitterte am ganzen Leib. Er atmete schwer und stieß angestrengt hervor: „Ich … weiß … alter … Freund … Sorry.“ Er wollte sich nicht verwandeln, aber er konnte nichts gegen den Impuls tun.
Endlich tauchte Hoggi auf. Er erfasste die Situation sofort und unterstützte Jaromir im letzten Augenblick. Gemeinsam schafften sie es gerade eben, Lenir in der menschlichen Gestalt zu halten.
Victoria hatte Jaromirs Probleme wie hautnah miterlebt. Die Geistesverbindung zu ihm war so intensiv, als würde sie unmittelbar neben ihm stehen. Doch sie konnte ihm nicht helfen.
Vor ihr ragte das Marineehrendenkmal wie ein mahnender Zeigefinger in den grauen Himmel. Der Wind pfiff gespenstisch zwischen den unbeflaggten Fahnenmasten hindurch und erzeugte ein unirdisch sirrendes Geräusch. Victoria blickte die Straße Richtung Fähranleger hinunter und sah dreißig weitere Motorradfahrer auf sie zukommen. Sie konnten hier nicht weg.
„Scheiße!“, fluchte sie und ging langsam rückwärts Richtung Kasse.
Kerstin fragte panisch: „Was wollen die von uns?“
Victoria sah zum Kassenhaus hinüber. Es war keine Menschenseele zu sehen. Nicht mal der Kassierer saß an seinem Platz. Niemand! Nirgendwo!
Sie fluchte noch mal: „Scheiße!“
Sie saßen in der Falle.
„Was wollen die von uns?“, fragte Kerstin wieder. Sie war wie gelähmt.
Victoria schaute zur Aussichtsplattform des Ehrendenkmals hoch. Es goss. Die Kapuze rutschte von ihrem Kopf und innerhalb von drei Sekunden waren ihre Haare klatschnass.
Sie beobachtete aus dem Augenwinkel die Motorradgang und sah in deren Köpfe: Die schweren Jungs würden sie schnappen, aber sie hatten keine Eile – wohin sollten die jungen Frauen auch fliehen? Auf der Straße und selbst am Strand würden sie die zwei jederzeit mit ihren Maschinen einholen. Und das Denkmal, das war eine Falle. Der Boss der Bande setzte sich bequem auf seinem Bock zurecht und grinste hämisch. Er genoss es sichtlich, seine Beute in die Enge getrieben zu haben.
Victoria machte einen Schritt auf Kerstin zu. „Egal, wie sinnlos es dir erscheint – mach genau das, was ich dir sage, verstanden?“, flüsterte Victoria eindringlich.
Kerstin starrte sie mit weit aufgerissenen Augen an und nickte stumm.
Dann ergriff Victoria Kerstins Hand und schrie in Gedanken: „RENN!“
Sie ließ Alberts Picknickkorb fallen und zog ihre Freundin die ersten Meter mit sich. Dann ließ sie los, sprintete die kurze Treppe hoch und rannte die zehn Meter zum Tor, welches die Straße zum Denkmal versperrte. Sie betete, dass der Sportunterricht noch nicht zu lange her war und hockte knapp über die hüfthohe Barriere.
Geschafft!
Aus dem Augenwinkel sah sie, dass Kerstin es ebenso machte.
Etwas fiel scheppernd auf den nassen Asphalt.
„Scheiße – mein Handy“ , dachte Kerstin entsetzt. Sie wollte sich umdrehen, doch hinter ihnen heulten schon die Motoren auf.
„Keine Zeit – sie haben uns gleich! KOMM WEITER!“, drängte Victoria und Kerstin folgte ohne Handy.
Die Biker fuhren bis zur Treppe. Der Boss brüllte wütende Befehle: „Los ihr Saftsäcke! Hinterher! Bringt mir die Langhaarige!!!“
Victoria grinste verbissen. Das Tor war verschlossen und der Bereich um das Denkmal eingezäunt. Mit dem Motorrad würde ihnen so schnell keiner folgen.
Aber sie blickte nicht zurück, sondern rannte, was das Zeug hielt. Die Teerstraße hinauf bis zum kleinen Platz mit der großen Schiffsschraube.
Das Wasser spritze hoch, wenn sie in eine Pfütze trat.
Die Treppen hoch bis zum großen Platz vor dem Denkmal.
Als sie durch den Torbogen trat, atmete sie schwer. Sie hatte definitiv viel zu lange keinen Ausdauersport mehr getrieben.
Sie blickte zurück.
Ungefähr zwanzig Mann waren ihnen auf den Fersen. Weitere folgten mit größerem Abstand.
Und sie trugen Waffen.
„Scheiße!“, zischte sie erneut.
Jaromir rastete fast aus! Auch er spürte genau, was bei ihr los war. Doch er musste sich beherrschen und dann noch dafür sorgen, dass sich sein Freund nicht verwandelte. „AAAARRRRGHHH!“ , brüllte er ohnmächtig vor Wut. Er KONNTE nicht zu ihr! Das war UNVERZEIHLICH!
Sein Ausbruch versetzte Lenir noch stärker in Aufruhr. Jaromir und Hoggi mussten ihre Anstrengungen
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