Machtrausch
mein persönlicher Assistent nach Wien! Bitte denken Sie darüber in aller Ruhe nach! Vergessen Sie nicht – ich meine es gut mit Ihnen, frei nach dem unsterblichen Wilhelm Busch: › Doch guter Menschen Hauptbestreben ist, andern auch was abzugeben !‹ Und: Grüße an Ihre reizende Gemahlin. Gute Nacht, mein lieber Glock!« Wieder Rauschen und Rascheln, so als habe der Österreicher den Ausknopf nicht sogleich gefunden. Anton saß wie vom Donner gerührt vor dem Schreibtisch. Dies war nicht nur das erste Jobangebot seiner Karriere, das er per Nachricht auf seiner Mailbox erhalten hatte, sondern auch die mit Abstand größte Unverschämtheit, die ihm seit Jahren untergekommen war. Er hatte gerade etwas dazugelernt: Am wirkungsvollsten ließ man jemanden seine Geringschätzung spüren, in dem man ihm gönnerhaft ein Jobangebot machte, das wehtat wie eine schallende Ohrfeige. Persönlicher Assistent eines Landeschefs war die ideale Einstiegsposition für einen frischen Absolventen einer Elite-Universität. Darüber war er seit vielen Jahren hinaus, und das wusste Kroupa genauso gut wie er.
5
Freitagmorgen. Nach einer Nacht, in der die Eheleute Glock unruhig (und Anton zudem wenig) geschlafen hatten, erschien er sehr früh im Büro. Um Punkt sieben Uhr betrat Glock das Zimmer im Hochhaus, das er sich mit seinem Kollegen Alois Rauch teilte. Ein Kollege der, gerade einmal über vierzig, jegliche Ambitionen bereits vor langer Zeit aufgegeben hatte. Früher hatte Glock abschätzig auf Kollegen dieser Art herabgeblickt, aber mittlerweile war ihm klar geworden, dass Angestellte, die einen Job auch einmal länger als zwei Jahre innehatten und nicht sofort den nächsten Schritt auf der Karriereleiter nach oben drängten, das Rückgrat einer Abteilung waren und diese, vermittels ihrer langen Erfahrung, zusammenhielten. Rauch war noch nicht erschienen, er kam stets so gegen halb neun. Wenn er überhaupt kam und nicht spontan einen Tag Urlaub oder Gleitzeit nahm. Das Postfach war ebenfalls noch leer, da die Hauspost erst um neun Uhr eintraf. Glock setzte sich auf seinen Drehstuhl, um den PC anzuschalten und um, wie er es morgens immer als Erstes tat, noch vor dem Holen des ersten Kaffees draußen in der Kaffeeküche, seine elektronischen Mails durchzusehen. Auf seiner Schreibtischunterlage entdeckte er einen nüchternen, braunen Hauspostumschlag, per Computerausdruck persönlich an ihn adressiert, DIN A4 und sorgfältig mehrmals mit Tesafilm zugeklebt. Der Umschlag musste bereits gestern gekommen sein, oder es hatte ihn jemand heute Nacht persönlich auf seinem Schreibtisch deponiert. Glock startete das Mailprogramm und registrierte, dass er seit gestern schon wieder siebzehn E-Mails erhalten hatte. Es kam kaum noch Hauspost, da mittlerweile praktisch die ganze Korrespondenz elektronisch erfolgte. Dies war bei seinem Berufseinstieg Anfang der Neunzigerjahre noch anders gewesen. Damals gab es eine große Truppe von so genannten Hauspostausträgern im Konzern, die Unmengen von braunen Hauspostumschlägen auf ihren Wägelchen durch die Gänge schoben und in die Eingangspostkörbe der Sekretariate legten, die dann wiederum die Post auf die Eingangskörbchen der einzelnen Angestellten der Abteilung verteilten. Von dem Hauspostaufkommen war seitdem fast nichts mehr übrig geblieben. Alle paar Wochen kam einmal ein vereinzelter Umschlag, der irgendwelche wichtigen Personalunterlagen enthielt. Dafür war das E-Mail-Aufkommen regelrecht explodiert. Glock kannte Kollegen, die über fünfhundert ungelesene E-Mails auf ihren Rechnern hatten, weil sie einfach nicht nachkamen (oder nachkommen wollten?), und die nachts bereits Albträume wegen ihres elektronischen Posteingangskorbes hatten. Glocks un-
widerlegbares Gesetz hierzu lautete: Nur zwei Kategorien von Nachrichten kamen noch ganz altertümlich in Papierform – die ganz unwichtigen (Werbebriefe, Telefonabrechungen etc.) und die ganz wichtigen (Kündigungen, Dinnerparty-Einladungen etc.). Alles andere fand sich in der elektronischen Mailbox.
Nach dem schnellen Aussortieren der zwölf unwesentlichen Nachrichten in seinem E-Mail-Eingangskorb blieben immer noch fünf Mails übrig, die er zumindest lesen und knapp beantworten musste.
Er riss gleichzeitig geistesabwesend den Hauspostumschlag auf und zog den einmal gefalteten Papier-Ausdruck eines Fotos heraus, auf dem – zuerst erkannte er es nicht, weil er das Bild verkehrt herum hielt – ein Finger mit rot lackiertem Nagel zu sehen
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