Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)
blieb neben der Tür stehen, reglos, ohne ein Wort. Oft bemerkte ihn Madame Bovary nicht einmal und setzte sich an ihren Friesiertisch. Zunächst zog sie mit kräftigem Kopfschütteln den Kamm heraus; und als er zum ersten Mal diese Haarfülle sah, die sich in schwarzen Locken herabringelte bis zu den Kniekehlen, da war ihm, diesem armen Kind, als habe er ganz plötzlich Zutritt zu etwas Außergewöhnlichem und Neuem, dessen Pracht ihn erschreckte.
Wahrscheinlich sah Emma weder seine stumme Beflissenheit noch seine Scheu. Sie ahnte nicht, dass die aus ihrem Leben verschwundene Liebe hier neben ihr pochte, unter diesem Hemd aus grober Leinwand, in diesem jungen Herzen, das empfänglich war für die Strahlen ihrer Schönheit. Im übrigen verbarg sie jetzt alles unter solcher Gleichgültigkeit, hatte so zärtliche Worte und so stolze Blicke, ein so sprunghaftes Benehmen, dass der Egoismus nicht mehr zu unterscheiden war von der Barmherzigkeit noch die Verderbtheit von der Tugend. Eines Abends zum Beispiel geriet sie in Zorn gegen ihre Dienerin, die um Ausgang bat und auf der Suche nach einem Vorwand herumstotterte; dann plötzlich:
»Du liebst ihn also?« sagte sie.
Und ohne die Antwort der errötenden Félicité abzuwarten, fügte sie traurig hinzu:
»Los, lauf schon! amüsier dich!«
Mit Frühlingsbeginn ließ sie den Garten von einem Ende zum andern neu anlegen, trotz der Einwände Bovarys; er war jedoch glücklich, dass sie überhaupt irgendeinen Willen äußerte. Das tat sie umso entschlossener, je mehr sie wieder auf die Beine kam. Zuerst fand sie Mittel und Wege, Mutter Rolet, die Amme, zu verjagen, die sich während ihrer Genesung angewöhnt hatte, mit ihren zwei Säuglingen und dem Ziehkind, das gefräßiger war als ein Kannibale, allzuoft in die Küche zu schleichen. Dann entledigte sie sich der Familie Homais, komplimentierte nacheinander alle anderen Besucher hinaus und ging sogar weniger eifrig zur Kirche, unter großer Zustimmung des Apothekers, der nun freundschaftlich sagte:
»Sie waren schon ein richtiges Nönnchen!«
Monsieur Bournisien schaute, wie zuvor, jeden Tag nach der Katechismusstunde vorbei. Er blieb am liebsten draußen und schnappte frische Luft im Gehölz , so nannte er die Laube. Um diese Zeit kam Charles nach Hause. Es war heiß; man brachte süßen Cidre, und die beiden tranken gemeinsam auf Madames völlige Wiederherstellung.
Binet war ebenfalls da, das heißt, ein Stück weiter unten, bei der Terrassenmauer, und fischte Krebse. Bovary lud ihn zu einer Erfrischung, und er verstand sich bestens darauf, die Krüge zu entkorken.
»Man muss«, pflegte er zu sagen, und ließ einen zufriedenen Blick über seine Umgebung und hinaus in die Landschaft schweifen, »die Flasche so halten, senkrecht auf dem Tisch, und wenn die Schnüre durchgeschnitten sind, den Korken mit leichtem Druck langsam, langsam hochschieben, wie man es übrigens in Restaurants auch mit Selterswasser macht.«
Häufig jedoch spritzte ihnen während seiner Vorführung der Cidre mitten ins Gesicht, und dann versäumte es der Geistliche nie, mit hintergründigem Lachen den immergleichen Witz anzubringen:
»Seine Köstlichkeit springt ins Auge!«
Er war ein rechtschaffener Mann, wirklich, und eines Tages nahm er nicht den geringsten Anstoß, als der Apotheker Charles den Rat gab, Madame zur Zerstreuung ins Theater von Rouen auszuführen, wo sie den berühmten Tenor Lagardy sehen könne. Homais wunderte sich über dieses Schweigen und wollte seine Meinung hören, worauf der Priester erklärte, er halte die Musik für weniger sittengefährdend als die Literatur.
Der Apotheker jedoch verteidigte die Dichtkunst. Das Theater, behauptete er, diene dazu, Vorurteile aufzuspießen, und lehre hinter der Maske des Vergnügens die Tugend.
» Castigat ridendo mores , Monsieur Bournisien! Denken Sie nur an die meisten Tragödien Voltaires; sie sind geschickt mit philosophischen Betrachtungen gespickt und werden dadurch für das Volk zu einer wahren Schule der Moral und Klugheit.«
»Ich«, sagte Binet, »habe einmal ein Stück gesehen mit dem Titel Der Pariser Lausejunge , worin die Figur eines alten Generals auffällt, der wirklich gelungen ist! Er jagt einen Sohn aus gutem Haus zum Teufel, der ein Arbeitermädchen verführt hat, das am Ende …«
»Natürlich!« fuhr Homais fort, »es gibt schlechte Literatur, wie es schlechte Apotheken gibt; aber die wichtigste unter den schönen Künsten in Bausch und Bogen zu verdammen,
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