Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)
auf die Erzeugnisse der bildenden Kunst angewandt, zu einem Realismus führen würde, der die Negation des Schönen und Guten wäre und der, weil er für die Blicke und für den Geist gleichermaßen verletzende Werke hervorbrächte, in einem fort Verstöße gegen die öffentliche Moral und die Sittlichkeit begehen würde;
in Würdigung der Tatsache, dass es Grenzen gibt, welche die Literatur, selbst die leichteste, nicht überschreiten darf und welche Gustave Flaubert und den Mitangeklagten offenbar nicht ausreichend bewusst waren;
doch in Würdigung der Tatsache, dass die Schrift, deren Autor Flaubert ist, ein Werk ist, an dem offenbar lange und gewissenhaft gearbeitet wurde, literarisch gesehen und was die Charakterstudien betrifft; dass die im Verweisungsbeschluss festgehaltenen Stellen, so tadelnswert sie auch sein mögen, nicht sehr zahlreich sind, verglichen mit dem Umfang des Werkes; dass diese Stellen, sowohl in den Gedanken, die sie darlegen, als auch in den Situationen, die sie schildern, zur Gesamtheit der Charaktere gehören, die der Autor darstellen wollte, obgleich sie übertrieben und von einem vulgären und oft anstößigen Realismus erfüllt sind;
in Würdigung der Tatsache, dass Gustave Flaubert seine Achtung vor der Sittlichkeit und allem, was mit der religiösen Moral zusammenhängt, beteuert; dass nicht offensichtlich ist, dass sein Buch, wie gewisse andere Werke, mit dem alleinigen Ziel geschrieben wurde, sinnliche Leidenschaften, den Geist der Zügellosigkeit und Ausschweifung zu befriedigen oder Dinge lächerlich zu machen, denen die Achtung aller gebührt;
dass er einzig und allein den Fehler begangen hat, manchmal die Regeln aus dem Blick zu verlieren, die jeder Schriftsteller, der etwas auf sich hält, niemals verletzen darf, und zu vergessen, dass die Literatur, als Kunst, um das Gute zu vollbringen, das zu verwirklichen sie aufgerufen ist, nicht nur in Form und Ausdruck keusch und rein sein muss;
unter diesen Umständen, in Würdigung der Tatsache, dass nicht ausreichend bewiesen ist, dass Pichat, Gustave Flaubert und Pillet sich der ihnen zur Last gelegten Vergehen schuldig gemacht haben;
spricht das Gericht sie von der gegen sie erhobenen Anklage frei und entlässt sie ohne alle Kosten.«
* Gazette des Tribunaux vom 9. Februar 1857
Anmerkungen
ANHANG
Nachwort
Der moderne Roman, das bin ich:
Gustave Flaubert und Madame Bovary
Emma Bovary ist eine der berühmtesten Frauen der Welt. An der Wiege gesungen wurde ihr dies Schicksal gewiss nicht, der kleinen Bauerntochter aus der Normandie, die einen beschränkten Landarzt heiratete und sich langweilte in der spießbürgerlichen Provinz, die von Paris träumte und nie weiter kam als bis nach Rouen, die sich nach leidenschaftlichen Liebhabern verzehrte und vorliebnehmen musste mit einem pomadisierten Provinz-Don Juan und einem blassen Kanzlisten, die alle Grenzen ihrer Herkunft überschreiten wollte und am Ende zum Arsen aus der Apotheke gegenüber griff. Im »Bovarysmus« gab sie sogar der Jahrhundert-Krankheit den Namen, aus dem eigenen, als unzureichend empfundenen Leben in Traum und Illusion zu entfliehen. Ruhm und Unsterblichkeit verdankt sie ihrem Schöpfer Gustave Flaubert, doch auch dessen Roman war, sieht man sich die Moden der damals dominierenden Romantik an, eigentlich kaum zum Ruhm geschaffen, ist doch die mediokre Geschichte der armen Emma Bovary in ihrer grauen Provinz das strikte Gegenteil des Grandiosen und Exotischen, des Farbigen und Pittoresken, ist der bewusste Widerspruch gegen Traum und Sehnsucht der Romantik. Einen solchen Roman hatte es noch nie gegeben. Und trotzdem, ja gerade deshalb wurde er zu einem ungeheuren Erfolg und zum Fanal einer neuen Literatur.
Madame Bovary. Sitten in der Provinz , sein Erstling aus dem Jahre 1857, machte Gustave Flaubert zum Begründer des modernen Romans, ohne den die Erzählkunst des zwanzigsten und einundzwanzigsten Jahrhunderts nicht denkbar ist. Seine Wirkung beschrieb Émile Zola schon 1895 in seinem Buch Les romanciers naturalistes : »Als Madame Bovary erschien, bedeutete das eine vollständige literarische Umwälzung. Es schien, als wäre die Formel des modernen Romans, die im riesigen Werk Balzacs bereits verstreut vorhanden war, nun auf den vierhundert Seiten eines einzigen Romans konzentriert und ausgesprochen worden. Der Kodex der neuen Kunst war niedergeschrieben. Madame Bovary besaß eine Klarheit und eine Vollkommenheit, die aus ihr den typischen Roman, das
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