Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)
einen Anstoß, vergleichbar dem Prozess gegen Antoine Berthet, der Stendhal zu seinem Roman Rot und Schwarz anregte.
Wie Nadeau in seinem Gustave Flaubert écrivain (1969), so misst auch Claudine Gothot-Mersch in La Genèse de Madame Bovary (1966) und in der Einführung zu ihrer immer noch maßgeblichen Edition der Madame Bovary von 1971 der Delamare-Geschichte eher geringe Bedeutung bei. Interessanter finden beide die erst 1947 von Gabrielle Leleu entdeckten Mémoires de Madame Ludovica , die in einem Konvolut mit Dokumenten zu Bouvard und Pécuchet verborgen waren und von Flauberts Hand annotiert sind. Diese Erinnerungen erzählen auf ungeschickte Art – ihre Verfasserin ist eine nicht näher bestimmte Vertraute – von den zahlreichen außerehelichen Abenteuern, inklusive finanzieller Katastrophen, der Louise Pradier, geborene d’Arcet, angefangen bei ihrer Heirat mit dem Bildhauer James Pradier bis zur Trennung 1844. Vor allem die desaströsen und verwickelten Geldangelegenheiten dürften Flaubert inspiriert haben. Er war über seine Familie mit dem Ehepaar bekannt, und möglicherweise hat ihm sogar Louise Pradier persönlich das Manuskript der Mémoires anvertraut, als er in den späten vierziger Jahren selbst in den Genuss ihrer Großzügigkeit kam. Natürlich sind in die Figur der Emma Bovary auch Charakterzüge und äußere Details anderer Frauen eingeflossen, wie etwa von Élisa Schlésinger oder von Louise Colet, seiner Geliebten der Jahre 1846 bis 1848 und 1851 bis 1854.
Schon kurz nach Erscheinen seines Romans begann Flaubert sich vehement gegen das Gerücht zu wehren, er habe einen Schlüsselroman geschrieben: »Nein, Monsieur, mir hat kein Vorbild Modell gestanden. Madame Bovary ist reine Erfindung. Alle Figuren dieses Buches sind vollkommen ausgedacht, und Yonville-l’Abbaye selbst ist ein Ort, den es nicht gibt , genausowenig wie die Rieulle [sic!] usw. Was nicht verhindert, dass man hier, in der Normandie, in meinem Roman einen Haufen Anspielungen hat entdecken wollen. Wenn ich welche gemacht hätte, wären meine Porträts weniger getreu, denn ich hätte Persönlichkeiten im Blick gehabt, und ich wollte, ganz im Gegenteil, Typen darstellen«, erklärt er am 4. Juni 1857 Émile Cailteaux, einem Notar aus Reims, der Flaubert nach der Lektüre von Madame Bovary einen begeisterten Brief geschrieben und nach dem »Original« gefragt hatte. Denn die Figur sei »so wahr und eindrucksvoll«, dass der Autor, einem Bildhauer gleich, ein Modell gehabt haben müsse.
In den vielen ausführlichen Briefen, die Flaubert während der Arbeit dem literarischen Vertrauensmann Louis Bouilhet und der »Muse« Louise Colet geschrieben hat, ist jedoch von der Delamare-Affäre kein einziges Mal die Rede. »Ludovica« hingegen ist zwischen Flaubert und Bouilhet bzw. Du Camp ein regelmäßig verwendetes Synonym für Louise Pradier. Für die Frage nach dem Vorbild der Emma Bovary gibt es allerdings noch eine andere, hochberühmte Antwort, die tief in die Mythologie des Romans eingegangen ist. »Madame Bovary, c’est moi! – D’après moi«, soll Flaubert der Schriftstellerin Amélie Bosquet auf die entsprechende Frage geantwortet haben. Jemand aus dem Freundeskreis der Bosquet hat diesen Satz dem Flaubert-Forscher René Descharmes verraten, und der wiederum hat ihn in eine Fußnote seiner Dissertation Flaubert, sa vie, son caractère et ses idées avant 1857 (1909) verpackt. Seitdem hat er ein unsterbliches Eigenleben entfaltet, aber wie es so ist mit den Mythen: Nichts kann belegen, dass Flaubert ihn je ausgesprochen hat.
Und wie verhält es sich nun tatsächlich mit der Bühne, auf der Charles und Emma ihre Tragödie leben? Auch wenn Yonville-l’Abbaye und Tostes erfundene Ortsnamen sind, die Geschichte der Bovarys ist doch fest in der Normandie verwurzelt, in jenem »beschissenen Land«, wie Flaubert sich am 14. November 1840 ausgedrückt hatte, »in dem man nicht mehr Sonne am Himmel sieht als Diamanten am Hintern der Säue«. Der Roman spielt in einer sehr realen Landschaft; die meisten genannten Städte und Dörfer lassen sich mühelos auf der Landkarte finden, die beschriebenen Örtlichkeiten, Häuser und Menschen stammen unzweifelhaft aus Flauberts unmittelbarer Umgebung. »Meine Landsleute werden aufheulen«, prophezeit er Louise Colet am 10. April 1853, »denn die normannische Farbe des Buches wird so wahrhaftig sein, dass sie sich darüber entrüsten werden.«
Und doch ist der Romancier sichtlich
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