Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)
Januar. Zuerst spricht Pinard, der insbesondere vier Stellen angreift: den Fehltritt mit Rodolphe, Emmas religiöse Phase zwischen den beiden Ehebrüchen, die Liebschaft mit Léon und schließlich Emmas Tod mit der Letzten Ölung. Der Staatsanwalt rügt die »laszive Farbe« des gesamten Buches sowie seine tiefe »Unmoral«; er bemängelt, dass die öffentliche Meinung, das ehrenwerte Bürgertum in einer grotesken Figur wie Homais verkörpert sei und dass der geistig bescheidene Priester Bournisien »das religiöse Gefühl« darstelle, ganz zu schweigen vom täppischen Ehemann Charles. Neben diesen lächerlichen Charakteren gebe es nur eine Person, die recht habe und die allen überlegen sei: die Ehebrecherin Emma.
Senard dagegen erinnert zunächst an seine alte Freundschaft mit der Familie Flaubert, beschwört deren Ansehen und Verdienste und schildert anschließend eloquent Madame Bovary als »Geschichte der Erziehung, wie sie allzu häufig in der Provinz erteilt wird«, und als »Geschichte eines beklagenswerten Lebens, dessen Auftakt allzuoft die Erziehung ist«, kurzum, als abschreckendes Beispiel mit größter moralischer Wirkung. Er zitiert hochangesehene Persönlichkeiten wie den Dichter Lamartine, er ruft die geistlichen Schriftsteller Bossuet, Massillon und Fénelon als literarische Kronzeugen auf, sogar die heilige Teresia von Ávila wird bemüht als Erklärung für Emmas mystische Verzückungen, und zuletzt führt er noch den allseits geachteten Kritiker und Autor Sainte-Beuve ins Feld, der wie Flaubert zur Darstellung einer Sterbeszene mit Letzter Ölung den genauen Wortlaut des Rituale von Paris benutzte.
Am nächsten Tag berichtet Flaubert seinem Bruder: »Das Plädoyer von Monsieur Senard war großartig. Er hat den Staatsanwalt zermalmt , der sich auf seinem Stuhl wand und erklärte, er werde nicht antworten. Wir haben ihn zugeschüttet mit Zitaten von Bossuet und Massillon, mit schlüpfrigen Stellen von Montesquieu usw.! Der Saal war gedrängt voll. – Es war famos, und ich habe ein stolzes Gesicht aufgesetzt. Einmal habe ich mir höchstpersönlich erlaubt, den Staatsanwalt Lügen zu strafen , und er wurde auf der Stelle der Unehrlichkeit überführt und hat seine Behauptung zurückgezogen. Du wirst übrigens die ganze Verhandlung Wort für Wort zu sehen bekommen, weil ich (für 60 Franc die Stunde) einen Stenographen hatte, der alles mitgeschrieben hat. Vater Senard hat vier Stunden hintereinander gesprochen. Es war ein Triumph für ihn und für mich.«
Am 7. Februar 1857 fällt das Urteil: Flauberts Roman wird zwar getadelt, »denn es muss die Aufgabe der Literatur sein, den Geist zu bereichern und zu ergötzen, indem sie den Verstand ausbildet und die Sitten reinigt, mehr noch, als den Abscheu vor dem Laster zu wecken, indem sie eine Darstellung der Liederlichkeiten bietet, die es in der Gesellschaft geben mag«, doch alle drei Angeklagten werden von den gegen sie erhobenen Anschuldigungen freigesprochen.
Man tut Ernest Pinard freilich Unrecht, wenn man ihn wie René Dumesnil nur als eine Mischung aus »Tartuffe und Homais« verspottet. Ohne es wirklich zu verstehen, hatte er nämlich das gespürt, was schon den ganz jungen Flaubert fasziniert hatte: die »Poesie des Ehebruchs«. Erst bei der letzten Überarbeitung im Frühsommer 1856 hat Flaubert aus Kapitel I des Dritten Teils (Léon wartet in der Kathedrale von Rouen ungeduldig auf Emma) genau diesen Ausdruck gestrichen: »Gleich würde sie da sein, bezaubernd, erregt […] mitsamt der Poesie des Ehebruchs und dem unsagbaren Reiz der Tugend, die strauchelt.« Und schon in Novembre von 1842 hatte ja der junge Held und Ich-Erzähler bekannt: »Seit damals gab es für mich ein Wort, das unter den menschlichen Worten das schönste schien: Ehebruch .« Zum Glück lag dieses Opus fest verschlossen in Flauberts Schublade, ebenso wie sein Tagebuch vom Mai 1845.Dort notierte Flaubert über die »Madame Ludovica« Louise Pradier: »die Poesie der Ehebrecherin ist nur deshalb wahr, weil sie selbst in der Freiheit ist, im Herzen des Schicksals«. Wie wäre das Urteil wohl ausgefallen, hätte Ernest Pinard all das gewusst?
Nur sechs Monate nach dem Bovary -Prozess steht Charles Baudelaire mit seinen Ende Juni 1857 erscheinenden Blumen des Bösen vor Gericht, nach dem Gründungsbuch des modernen Romans nun also auch das Gründungsbuch der modernen Poesie. Wieder tritt Ernest Pinard als Staatsanwalt auf. Für Baudelaire, der sich mit Flaubert über
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