Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)
März 1920 in der Nouvelle Revue française mit einem umfangreichen »Brief an Marcel Proust« antwortet. Seinen Satz »Flaubert ist kein großer Schriftsteller von Geblüt« nimmt er als den missglückten Versuch zurück, Flauberts mühevolle und zeitaufwendige Arbeitsweise zu charakterisieren. Entscheidender aber ist sein Protest gegen Prousts Behauptung, man könne mit grammatischen Mitteln das Bild der Welt verändern. Diesen »Ultra-Bergsonismus«, wie er es treffend-ironisch nennt, kritisiert er auf zweierlei Weise: Zunächst zeigt er mit Beispielen, dass Flauberts angebliche »grammatische Erfindungen« schon früher bei zahlreichen Meistern der französischen Literatur zu finden sind. Zum anderen, und das ist der wichtigere Aspekt, entwickelt er seine Vorstellung, dass Literatur sich zwar der Grammatik bedient, diese aber, wie Flaubert es tat, zu eigenen literarischen, erzählerischen Zwecken verändern kann. Thibaudet stellt deshalb der »invention grammaticale« die »invention de sentiment« entgegen, die Erfindung im Gefühl.
Die Debatte geht noch fast zwei Jahre weiter, aber das Wesentliche ist gesagt. Bereits in seinem ersten Aufsatz aber hatte Thibaudet noch einen weiteren Schluss gezogen, der von der Geschichte und den Lesern aller folgenden Jahrzehnte bestätigt worden ist: »Der Stil Flauberts hat seinen Wert durch seine Fruchtbarkeit bestätigt.« Und weiter: »Dieser Schriftsteller, der kein Mitglied der Académie war, war für sich allein eine ganze Akademie, das heißt eine Quelle von Beispielen. Bei ihm hat eine ganze Generation schreiben gelernt.« Die Frage, ob Flaubert »schreiben konnte«, stellt sich nicht mehr; Flaubert hat eine Art des Schreibens erfunden, die für die ganze Zeit nach ihm beispielgebend war. Die Debatte von 1919 bis 1921 ist der letzte Akt eines Prozesses, in dem man die früheren Außenseiter der Moderne endgültig als die großen Meister der Epoche erkannte. Guy de Maupassant und Émile Zola waren nur die ersten, die Flauberts historischen Rang deutlich aussprachen, und der amerikanische Romancier Henry James, der Flaubert noch kennengelernt hat und ihm so viel verdankt, war vielleicht die erste bedeutende internationale Stimme. Henry James war aber auch derjenige, der die unauflösliche Verbindung von Flauberts Stil mit der erzählten Geschichte hervorhob: » Madame Bovary ist ein Buch von einer Vollkommenheit, die es nicht nur charakterisiert, sondern in gewisser Weise isoliert; es erhebt sich mit höchster und unnahbarer Sicherheit, die geeignet ist, das Urteil zu provozieren und herauszufordern. Denn was die unnahbare Seite betrifft, so behandelt es keineswegs hohe oder verfeinerte Dinge; es verleiht den ziemlich gewöhnlichen Elementen seiner Demonstration nur eine endgültige und unübertreffliche Form.« Und er schließt: »Das Werk ist ein Klassiker, denn die Sache, so wie sie ist, ist auf ideale Weise vollendet und zeigt, dass in einer solchen Vollendung ewige Schönheit wohnen kann.«
Seitdem ist Flaubert ein Klassiker, aber ein lebendiger Klassiker, der immer neue Deutungen herausfordert. Jean-Paul Sartre arbeitete sich an ihm ab in seiner megalomanen, unvollendeten Studie Der Idiot der Familie ; Jean Améry verteidigte in Charles Bovary, Landarzt. Porträt eines einfachen Mannes die Figuren des Romans gegen ihren Schöpfer. Für Heinrich Mann war Flaubert schlechthin »der Heilige des Romans«, und Nathalie Sarraute, die Autorin des nouveau roman , schrieb in »Flaubert le précurseur«: »Unser aller Meister ist heute Flaubert.« Und das gilt bis in die Gegenwart, wie Pierre Michon bestätigt: » Madame Bovary ? Das ist ein Buch, das Sie alle zwei Monate lesen können, es ist immer neu. Wieviel solche Bücher gibt es schon?« Hier liegt die andauernde Kraft von Flauberts Werk: in der unerschöpflichen Vielfalt der Deutungsmöglichkeiten und Lesarten. Ist Madame Bovary ein Roman über die exaltierte Mittelmäßigkeit einer Landarztgattin in der Provinz? Oder über eine Frau, die für ihr Lebensverlangen keine Grenzen gelten lassen will? Wer Madame Bovary liest, wird darüber selbst jedes Mal neu entscheiden.
Zur Ausgabe
Madame Bovary. Mœurs de province erschien zunächst als gekürzter Vorabdruck in der Revue de Paris , 1856, geteilt in sechs Fortsetzungen: 1. Oktober, S. 5–55; 15. Oktober, S. 200–248; 1. November, S. 403–456; 15. November, S. 539–561; 1. Dezember, S. 35–82; 15. Dezember, S. 250–290.
Die Buchausgabe erschien am 15.
Weitere Kostenlose Bücher