Madame Bovary: Roman. Herausgegeben und übersetzt von Elisabeth Edl (German Edition)
die Wolken aufreißen. Ein solches Schauspiel muss Begeisterung wecken, zum Gebet verleiten, zu Schwärmerei! Deshalb wundere ich mich auch nicht mehr über jenen berühmten Musiker, der, um seine Phantasie stärker anzuregen, vor einer beeindruckenden Landschaft Klavier zu spielen pflegte.«
»Musizieren Sie auch selbst?« fragte sie.
»Nein, aber die Musik bedeutet mir viel«, antwortete er.
»Ach! hören Sie nicht auf ihn, Madame Bovary«, unterbrach Homais, über seinen Teller gebeugt, »das ist reine Bescheidenheit. – Wie denn, mein Guter! Na! und neulich, in Ihrem Zimmer, da haben Sie den Ange gardien ganz vortrefflich gesungen. Ich hörte Sie im Laboratorium; Sie artikulierten das wie ein Schauspieler.«
Léon wohnte nämlich beim Apotheker, wo er ein Zimmerchen im zweiten Stock hatte, zum Platz hinaus. Das Kompliment seines Vermieters ließ ihn erröten, dieser jedoch hatte sich bereits wieder zu dem Arzt gedreht und nannte ihm, einen nach dem anderen, die wichtigsten Einwohner von Yonville. Er berichtete Anekdoten, gab Erklärungen; man wusste nichts Genaues über das Vermögen des Notars, und da war noch das Haus Tuvache , das sich gern aufspielte.
Emma sprach weiter:
»Und welche Musik ist Ihnen die liebste?«
»Oh! die deutsche, sie verführt zum Träumen.«
»Kennen Sie die Italiener?«
»Noch nicht; aber ich sehe sie nächstes Jahr, wenn ich nach Paris ziehe, mein Jurastudium abschließen.«
»Wie ich schon die Ehre hatte«, sagte der Apotheker, »Ihrem Herrn Gemahl bezüglich dieses armen Yanoda darzulegen, der sich aus dem Staub gemacht hat; dank der Tollheiten, die er beging, kommen Sie in den Genuss eines der komfortabelsten Häuser von Yonville. Ganz besonders praktisch für einen Arzt ist die Tür zur Allee , durch die man ein und aus gehen kann, ohne gesehen zu werden. Außerdem besitzt es alles, was in einem Haushalt angenehm ist: Waschraum, Küche mit Dienstbotenzimmer, Salon, Obstkeller usw. Das war ein Luftikus, der scheute keine Kosten! Er hat sich hinten im Garten, neben dem Wasser, eine Laube bauen lassen, bloß um dort im Sommer Bier zu trinken, und wenn Madame etwas für die Gartenpflege übrig hat, kann sie …«
»Meine Frau befasst sich mit so etwas nicht«, sagte Charles, »lieber bleibt sie, obwohl ihr Bewegung verordnet ist, ständig in ihrem Zimmer und liest.«
»So wie ich«, bemerkte Léon; »was gibt es Schöneres, als abends mit einem Buch am Kamin zu sitzen, während der Wind an den Scheiben rüttelt und die Lampe brennt? …«
»Nicht wahr?« sagte sie und heftete auf ihn ihre großen schwarzen, weit geöffneten Augen.
»Man denkt an nichts«, fuhr er fort, »die Stunden vergehen. Reglos durchstreift man Länder, die man zu sehen glaubt, und die Vorstellungskraft, die sich um das Erdichtete rankt, verliert sich in Einzelheiten oder folgt dem Lauf der Abenteuer. Sie mischt sich unter die Figuren; fast scheint uns, als poche das eigene Herz unter ihren Kleidern.«
»So ist es! So ist es!« sagte sie.
»Ist Ihnen zuweilen widerfahren«, erwiderte Léon, »dass Sie in einem Buch auf einen unbestimmten Gedanken stießen, den Sie schon einmal hatten, auf irgendein dunkles Bild, das von weit herkommt, als vollendeter Ausdruck Ihres feinsten Empfindens?«
»Das habe ich erlebt«, antwortete sie.
»Aus diesem Grund«, sagte er, »schätze ich vor allem die Dichter. Ich finde Verse zärtlicher als Prosa, und sie bringen uns viel leichter zum Weinen.«
»Auf Dauer ermüden sie freilich«, erwiderte Emma; »dagegen liebe ich zur Zeit Geschichten, die man in einem Atemzug liest, bei denen man Angst hat. Ich hasse gewöhnliche Helden und laue Gefühle; die gibt es in der Natur.«
»Ja, wirklich«, stellte der Kanzlist fest, »solche Werke berühren das Herz nicht und verfehlen darum, wie mir scheint, das wahre Ziel der Kunst. Es tut so wohl, wenn man neben den Enttäuschungen des Lebens in Gedanken Zuflucht nehmen kann zu edlen Charakteren, zu reinen Gefühlen und Bildern von Glück. Was mich betrifft, der ich hier lebe, fern von der Welt, so ist das meine einzige Zerstreuung; doch Yonville hat so wenig zu bieten!«
»Wie Tostes, höchstwahrscheinlich«, erwiderte Emma; »deshalb war ich immer bei einem Lesekabinett abonniert.«
»Wenn Madame mir die Ehre erweisen will, davon Gebrauch zu machen«, sagte der Apotheker, der die letzten Worte mitgehört hatte, »meine eigene Bibliothek steht zu ihrer Verfügung, und sie enthält die besten Autoren: Voltaire, Rousseau,
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