Madame Butterflys Schatten
und war seinen Vergnügungen nachgegangen. Hier, wo alles, was man tat, seine ganz spezielle Geschichte hatte, musste er widerstrebend anerkennen, dass es noch mehr gab.
Es waren diese Momente, in denen er nachdenklich seinen Blick auf ihr ruhen ließ, die Cho-Chos Hoffnung nährten. An manchen Tagen saß sie unten an der Felsküste und sah ihm vom Ufer aus beim Schwimmen zu, sah die Sonne auf seiner nassen Haut glitzern, wenn er sich aus den Wellen erhob wie der Meeresgott Ry ū jin, der in seinem Korallenschloss auf dem Meeresgrund über die Gezeiten herrschte. Er winkte ihr zu, und Wassertropfen spritzten durch die Luft, funkelnd wie Edelsteine, die in die schaumgekrönten Fluten zurückgeworfen wurden. Wenn er zurück ans Ufer kam, zog er sie von ihrem Platz auf den Felsen, als würde er eine Muschel abpflücken, und drückte sie an sich, durchnässte ihren Baumwollkimono, bis sie lachend und kreischend zu protestieren begann.
Die Reparaturarbeiten an seinem Schiff näherten sich dem Ende, bald würde er wieder auf Fahrt gehen. Aber das musste nicht heißen, dass alles vorbei war. Sie stellte sich vor, sie wären zwei verschiedenfarbige, ineinander verschlungene Fäden, die einen unzerreißbaren Strang bildeten, so wie jede Nacht ihre Körper ineinander verschlungen waren.
An Pinkertons letztem Abend bereitete Cho-Cho ein besonderes Abendessen für ihn zu. Sie schickte das Dienstmädchen Suzuki weg und machte alles selbst. Eines der Gerichte servierte sie ihm zu seinem Verdruss auf einem ovalen Blatt, das sie von einem Baum in der Nähe abgebrochen hatte. Wenn man ihm die Wahl ließ, zog er es vor, von einem Teller zu essen. Sie bemerkte seinen Unmut.
»Tradition.«
»Das hätte ich mir denken können.«
»Das ist tegashiwa -Blatt.«
Sie hatte sich die Worte vorher zurechtgelegt, wollte ihm wie einst ihr der Vater erklären, dass in früheren Zeiten ein Samurai, der sein Heim verließ, um seinem Herrn zu folgen, von seiner Frau zum Abschied die letzte Mahlzeit auf einem tegashiwa -Blatt serviert bekam. Danach, so hatte ot ō -san gesagt, hängte sie das Blatt über der Tür auf, damit der Samurai sicher nach Hause zurückkehrte.
»In früheren Zeiten«, setzte sie an, aber ihr wollten die Worte nicht mehr einfallen. Also schüttelte sie lächelnd den Kopf und hielt ihm das Gericht auf dem Blatt einfach hin.
»Tradition.«
Nach dem Essen wusch und trocknete sie das Blatt, und dann hängte sie es über der Tür auf. Sie erinnerte sich daran, dass ot ō -san ihr erzählt hatte, dieses einer menschlichen Hand so ähnliche Blatt würde jedes Mal winken, wenn es von einem Windstoß erfasst wurde, so wie ein Japaner einem Freund winkte, eine Frau ihrem Mann.
Pinkerton sah ihr nachsichtig zu.
»Tradition?«
»Tradition.«
Als der Tag anbrach, lagen sie zum letzten Mal aneinandergeschmiegt wie zwei Vögel im Nest ihres Futons.
»Kommst du zurück, Pinkerton?«
Er nickte schläfrig.
»Wann?«
Er suchte nach einer Antwort, die unbestimmt genug war, um ihn nicht festzunageln, und gleichzeitig so ermutigend, dass sie sich damit zufriedengab. Sein Blick fiel auf die Vögel, die hoch oben über den Himmel zogen, einander beinahe mit den Flügelspitzen berührten, unzählige winzige Silhouetten, die das Land hinter sich ließen.
»Eines Tages, wenn die Schwalben wieder ihre Nester bauen.« Er war sehr zufrieden mit seiner Antwort; er fand, sie hatte etwas geradezu Japanisches.
Sie folgte seinem Blick, sah den Schwarm um Schwarm davonziehenden Schwalben nach, die den Himmel verdunkelten. Vögel flogen weg. Vögel kamen wieder. Sie nickte. Sie verstand.
Sie schmiegte sich an seine Schulter, strich über die goldenen Härchen auf seinen Armen, ließ ihre Zungenspitze zuerst um die eine, dann um die andere Brustwarze kreisen, wie er es ihr beigebracht hatte. Er stöhnte vor Lust, in die sich ein Hauch von Traurigkeit mischte; einen kurzen Augenblick empfand auch er ein Gefühl des Verlustes.
Es war nur ein kurzer Stich, den er bald wieder vergessen würde. Dass ihr dieser Schmerz bleiben sollte, kam ihm nicht in den Sinn.
Beim Auslaufen des Schiffes war Pinkerton beschäftigt und verpasste daher den Augenblick, als es die Leuchttürme passierte und Kurs auf die offene See nahm. Erst als der Wind auffrischte und die Wellen, die gegen den Bug schlugen, höher wurden, warf er einen Blick auf die zurückweichende Küste, und auf einmal fühlte er sich frei, so als hätte er eine zarte, aber zugleich unerwartet
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