Madame Butterflys Schatten
ihren Futon wie gewohnt in einer Ecke des Hauses ausrollen und bat darum, einen »bescheidenen Beitrag« zum Haushalt leisten zu dürfen. Cho-Cho bestand darauf, dass sie so lange blieb, bis sie eine bequemere Unterkunft gefunden hatte. Selbstverständlich war das nur eine vorübergehende Regelung, darin waren sie sich einig.
Am darauffolgenden Tag zog Suzuki ihre dicke baumwollene Arbeitskleidung an und machte sich im frühmorgendlichen Nebel auf den Weg, um einen neuen, unbekannten Abschnitt ihres Lebens zu beginnen.
Nachdem die unersättlichen Seidenraupen die Maulbeerbäume kahl gefressen und sich verpuppt hatten, pflückten die Bauern die prallen Kokons von den Zweigen und lieferten sie in der Fabrik ab. Suzuki wurde den Arbeiterinnen zugeteilt, welche die randvollen Körbe in Empfang nahmen und zu den Kesseln mit kochendem Wasser trugen, wo die Verarbeitung begann.
Wenn sie sich lange nach Einbruch der Nacht von ihrer Schicht nach Hause schleppte, völlig erschöpft und selbst zum Essen zu müde, fand ein merkwürdiger Rollentausch statt: Jetzt war es Cho-Cho, die ihr gut zuredete, wenigstens ein paar Körner Reis zu essen, die sie auszog und wusch und zu dem ausgerollten Futon führte, während Suzuki ihr im Halbschlaf von ihrem Tag erzählte.
»Die armen Raupen! Sie strengen sich so sehr an, spinnen Fäden und wickeln sich in ihre dicken Kokons, und dann werden sie in große Kessel gekippt und bei lebendigem Leib gekocht. Ich muss alle herausklauben, aus denen schon Schmetterlinge geworden sind.«
»Aber warum denn?«
»Sie brechen den Kokon auf, um sich zu befreien. Dabei zerreißt der Faden, wird unbrauchbar.« Sie gähnte, zu müde, um sich die Hand vor den Mund zu halten. »Wenn die Kokons weich sind, holen wir sie aus dem Wasser und wickeln die Fäden vorsichtig auf Metallspulen. Sie sind wunderschön, fein wie Spinnweben.«
»Das klingt schwierig.«
»Ja«, murmelte sie, »schwierig. Aber ich bin schon ziemlich gut.«
Suzuki erzählte ihr, wie beeindruckend groß die Seidenfabrik war, von den langen Tischreihen, an denen die Frauen arbeiteten, von der riesigen Menge Seidenfaden – »Der Faden aus einem Kokon reicht manchmal von der Tür bis zur Küste« –, aber sie erzählte ihr nichts von dem kochenden Wasser, das aus dem Kessel schwappte und ihr die Arme verbrühte, nichts davon, dass sie die Temperatur mit den Fingerspitzen fühlen musste, nichts von den Unfällen durch defekte Maschinen.
Sie tat es mit einem Achselzucken ab, als sie eines Abends mit blutenden Händen nach Hause kam und Cho-Cho sich besorgt erkundigte, was passiert sei.
»Maschinen können kaputtgehen. Manchmal wird eine Arbeiterin dabei verletzt.«
Bestürzt strich Cho-Cho ihr eine Heilsalbe auf die verletzten Finger.
»Du musst besser aufpassen.«
Die beiden Frauen klammerten sich in ihrer Not aneinander, und das kleine Haus auf dem Hügel bot Suzuki ein Leben jenseits der Fabrik, ein Leben, in dem ein Kind zuerst krabbeln lernte und dann laufen. In dem es nach dampfendem Reis und shoyu roch und in dem an einer Leine vor dem Haus frisch gewaschene Wäsche im Wind flatterte. Die Frauen, die in der Fabrik neben ihr am Tisch standen, schliefen in überfüllten, stickigen Schlafsälen, sie mussten sich anstellen, wenn sie sich waschen wollten, bewegten sich zwischen Fabrik und Schlafsaal hin und her wie Gefangene. Sie empfand Mitleid mit ihnen und schätzte sich selbst glücklich.
Von Zeit zu Zeit stattete ihnen Sharpless einen Besuch ab und brachte Cho-Cho ein mit Bedacht ausgewähltes Geschenk mit, nicht zu wertvoll, sodass sie es annehmen konnte, und auch Suzuki steckte er etwas zu, das sie unauffällig in der Vorratskammer verschwinden ließ.
Cho-Cho freute sich über seine Besuche, der Konsul stellte eine Verbindung zu ihrem Vater dar, zu dem Leben, das sie früher geführt hatte, und zu Pinkerton. Er war sich seiner privilegierten Stellung bewusst und wahrte Zurückhaltung, achtete darauf, niemals zu weit zu gehen. Er hoffte, dass er sich so benahm, wie es den japanischen Sitten entsprach. Zumindest an der Oberfläche. Wobei, sagte er sich dann, für Japaner die Wirklichkeit das war, was man an der Oberfläche sah. Er war beruhigt.
Eines Tages beging Cho-Cho die Taktlosigkeit, ihm ins Wort zu fallen, als er sie gerade zu der bereits jetzt erkennbaren Intelligenz ihres Sohnes beglückwünschte. Ihre Stimme war kaum lauter als ein Flüstern, und sie sprach englisch, wie sie es oft tat, um zu üben, wenn sie sich
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