Madame Butterflys Schatten
Schlauchrolle herlief.«
Er stellte fest, dass einige der Gassen inzwischen gepflastert worden waren, manche der Geschäfte vergrößert. Aber der Stand, an dem er damals irgendwann im Vorbeigehen ein Armband gekauft hatte, sah noch genauso aus wie in seiner Erinnerung. Er warf einen Blick auf den auf einem weißen Tuch ausgelegten Schmuck aus Silber und Emaille: Cloisonné. Sie hatte ihm den Namen beigebracht.
Er zog den jungen Offizier zu einem Stand mit Süßigkeiten: »Das müssen Sie unbedingt probieren, Jensen: Nagasaki Castella, eine Art Biskuit, den die Portugiesen mitgebracht haben.«
Pinkerton neigte nicht dazu, Nabelschau zu betreiben: Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, alles im Leben so zu nehmen, wie es kam, und sich trotz aller Schläge nicht beirren zu lassen. Doch als er sich jetzt mit Jensen durch das Gewühl in den Straßen der kleinen Stadt schob, erfasste ihn Unruhe, Unsicherheit: Beinahe erschrocken erkannte er, dass er hier glücklich gewesen war.
Mit einem Anflug von schlechtem Gewissen fragte er sich, wie es Cho-Cho ergangen sein mochte. Nicht, dass er sich irgendetwas vorzuwerfen gehabt hätte: Sie war ein Teehausmädchen, sie hatten eine geschäftliche Vereinbarung getroffen, aber sie war nett, und er hoffte, dass sie andere Beschützer gefunden hatte, die ebenso großzügig waren wie er. Irgendwo ganz hinten in seinem Bewusstsein lauerte das Wissen, dass es ein Kind gab, kaum mehr als eine Ahnung. Einen Moment stellte er sich eine Miniaturausgabe von Cho-Cho vor, ein kleines japanisches Mädchen in einem niedlichen Kimono, wie er sie auf dem Markt gesehen hatte. Dieses Bild hatte jedoch etwas Irreales, und er hatte ganz gewiss nicht das Gefühl, dass es irgendetwas mit ihm zu tun hatte. Es war ein anderes Bild, das ihn nicht losließ, Cho-Cho selbst, eine in Seide gehüllte Porzellanpuppe, ihre Sanftheit gepaart mit erstaunlicher Leidenschaft. (Obwohl er sich erneut fragte, ob die »Leidenschaft« den Mädchen vielleicht beigebracht wurde, zu ihrem Handwerkszeug gehörte, eine geschickte Finte war.)
»Man kann hier wirklich schöne Stunden verbringen«, erklärte er dem Jungen und zählte ein paar der Annehmlichkeiten auf: die Ehefrau auf Zeit, das Haus, »Behaglichkeit«.
Es geschah aus dieser nostalgischen Stimmung heraus, dass er seine Schritte zu der Straße am Hafen lenkte und dann den Pfad den Hügel hinauf, um einen Blick auf das Haus aus Holz und Papier zu werfen – so es noch stand –, in dem er Nächte voll Lust und Leidenschaft auf einem Futon verbracht und gelernt hatte, rohen Fisch zu essen.
Er erklärte Jensen gerade die seltsame Vorstellung der Japaner von Gartengestaltung – »im Grunde nur ein paar große Steine, Kies und Moos« –, als hinter der letzten Biegung das Haus in Sicht kam. Zu seiner Verwunderung war der ganze Garten voller Grünzeug; Gemüse, wie es schien. In einer Ecke pickten gackernde Hühner auf dem Boden herum. Die Haustür war offen, und in der Öffnung stand eine zierliche Gestalt, schmal, sehr aufrecht, in einem schlichten blauen Kimono. Mit klarer, fester Stimme rief sie: »Pinkerton! O-kaeri nasai! Willkommen zu Hause!«
Zweiter Leutnant zur See Jensen war verwirrt: War diese sogenannte Ehe denn keine befristete Angelegenheit gewesen? Er warf einen verstohlenen Blick zu seinem Vorgesetzten, der seinerseits fassungslos die Frau in der Tür anstarrte.
»Ich habe das Schiff gesehen«, rief sie, »mit deinem Fernglas. Ich wusste, dass du es bist.«
Zur Überraschung der beiden Männer sprach sie englisch. Pinkerton verschlug es nicht oft die Sprache, und er bildete sich ein zu wissen, wie man mit schwierigen Situationen umging. Im Moment wusste er jedoch nicht einmal, mit was für einer Situation er es zu tun hatte. Vielleicht war es dem Mädchen gut ergangen, sie war in dem Haus wohnen geblieben und freute sich einfach nur, einen alten Kunden wiederzusehen. So musste es sein.
Dann entdeckte er hinter Cho-Cho den kleinen Jungen, der sich an ihre Knie klammerte, seine blonden Haare schimmerten hell in dem dämmrigen Raum, und er sah ihn mit seinen blauen Augen unverwandt an. Er trug einen Matrosenanzug. Eine lebende Puppe. Aus den vielen verschwommenen Bildern in Pinkertons Kopf trat eine Erinnerung scharf hervor: er selbst als Kind, wie er bei einem Besuch auf dem Jahrmarkt an der Hand seiner Mutter für ein Foto posierte. Als er jetzt den Jungen ansah, kehrte alles zurück, die Drehorgelmusik des Karussells, die Menschenmenge, der Geruch
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