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Madame Hemingway - Roman

Madame Hemingway - Roman

Titel: Madame Hemingway - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Paula McLain
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Zittern ist mittlerweile verschwunden. Er hat dagegen angekämpft, und nun kann er das tun, wozu er gekommen ist.
    Auf der Straße nach Karagatsch spricht er mit vielen, die aus Smyrna kommen, die das Feuer und noch Schlimmeres gesehen
haben. Ein Mann mit knallrotem Gesicht hat seine Schwester gesehen, die schreiend und am ganzen Körper entflammt hinunter zur Kaimauer rannte. Der Arm eines anderen Mannes ist von der Hand bis zur Schulter in Verbände gewickelt, die schmutzig und durchnässt sind, und sogar im Regen ist der Faulbrand zu riechen, ein süßlicher Geruch wie von gerösteten Mandeln. Ein anderer Mann übersetzt seine Worte für ihn und berichtet, dass er sich in Smyrna beinahe einen ganzen Tag und eine Nacht unter einem Steg versteckt habe, wo ihm das Wasser teilweise bis zur Brust reichte. Die Muscheln an den Pfählen des Stegs haben seine Hand und seinen Arm so zugerichtet, als die Flut kam und ihn gegen ihre harten Schalen schleuderte.
    »Sie suchten den Hafen mit Scheinwerfern ab«, berichtet der Mann. »Und man wollte die Dinge, die um einen herum im Wasser trieben, lieber nicht zu genau sehen.«
    Am Ende kam er doch noch aus dem Wasser heraus, fand seine Familie und floh mit ihr, wie so viele andere. Er trug an einigen Stellen tiefe Schnittwunden davon, die allerdings nicht bluteten. Er dachte, das Salz würde die Wunden heilen und er würde es auch ohne einen Arzt schaffen.
    »Aber wie Sie sehen können, geht es mir nicht gut«, erklärt der Mann durch seinen Übersetzer und läuft weiter.
    »Ja, das kann jeder sehen«, erwidert Ernest.
    Sie laufen neben einem Karren her, der von einem großen, vor Nässe triefenden Ochsen gezogen wird. Die Frau des Mannes liegt auf dem Karren in den Wehen. Die Decken unter ihr sind völlig durchnässt, zwei ihrer Kinder halten ein weiteres tropfendes Laken wie ein Zelt über sie, während sie sich vor Schmerzen krümmt. Dabei versuchen die Kinder, nicht hinzusehen. Eine alte Frau kniet zwischen ihren Beinen, und Ernest kann das Schreien kaum ertragen, das nicht aufhören wird, bis das Kind geboren ist, und vielleicht nicht einmal dann.
    Der Mann läuft daneben weiter, sieht nach vorn in den Regen, und sagt: »Meine Frau weiß, dass ich ein Feigling bin. Ich habe mich unter einem Steg versteckt. Ich wollte sie alle im Stich lassen.«
    Ernest nickt. Er blickt auf und sieht, dass sie sich einer Brücke über den Fluss nähern. Sie ist aus Holz und wirkt etwas rutschig, aber solide, wenn man sieht, was sie alles trägt: Karren, Ochsen, Kamele, all die dicht gedrängten Menschen, von denen sich gerade niemand vor oder zurück bewegen kann.
    Über die Köpfe der Menschen hinweg sieht Ernest in einiger Entfernung die schlanken weißen Turmspitzen einer Moschee. Die Minarette ragen aus dem gelben Schmutz heraus, losgelöst von den sehr realen Geschehnissen auf der Straße, dem Schlamm, den Schreien, der Feigheit und dem Regen. In seiner Jackentasche steckt ein blauer, in der Mitte einmal geknickter Notizblock mit zwei Bleistiften. Er weiß, dass das Papier durchnässt ist, ohne es überprüfen zu müssen. Aber er könnte ohnehin nichts von alldem aufschreiben. Er wird heute Abend vom Hotel aus einen Bericht abschicken, falls das Hotel nicht schon in den Fluten versunken ist. Im Augenblick kann er nur dafür sorgen, dass er alles sieht, nicht zittert und nicht den Blick abwendet.
     
    Eine Woche vergeht, und er hat das Gefühl, niemals irgendwo anders gewesen zu sein. Das macht der Krieg mit einem. Alles, was man sieht, verdrängt die Momente und Menschen aus dem Leben, das man davor hatte, bis man nicht mehr weiß, warum irgendetwas davon einem je etwas bedeutet hat. Dabei macht es keinen Unterschied, ob man Soldat ist oder nicht. Die Auswirkungen sind für jeden die gleichen.
    Er schläft in seinem Feldbett in einem Hotel in Adrianopel unter einer dreckigen Decke, und sein Körper ist übersät von Läusebissen. Tagsüber spricht er mit Flüchtlingen, schreibt und
sendet seine Berichte an den
Star
und unter dem Namen John Hadley auch an den
INS
. Manchmal ist er zu müde und schickt dieselbe Geschichte zweimal ab. Es kümmert ihn wenig, sollen sie ihn doch feuern. Dafür müssten sie ihn zuerst einmal finden, doch er ist nirgendwo.
    Abends geht er in eine Bar, wo ein armenisches Mädchen mit dunklen Ringen unter den Augen ist, das ein buntes, in der Taille zusammengebundenes Kleid trägt. Er erkennt die Umrisse ihrer Brüste unter dem Stoff, er will sie anfassen und

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