Madame Lotti
während des Ramadans nicht, weiss ich, mir bleibt noch Zeit.› Meine Grossmutter war ein ähnlicher Sturkopf wie Lotti, und sie hatte eine ähnliche Auffassung vom Leben und Sterben wie Lotti. Und ich gebe den beiden Recht: Alles hat seine Zeit.
Dazu gehört auch Lottis Zeit in Abidjan. Sie tut dort einfach etwas früher das, was wir eigentlich für später eingeplant hatten. Lotti sprach schon längst davon, irgendwann, dann, wenn die Kinder draussen sein würden, ein Altersheim zu eröffnen. Und dies in meiner Heimat, in Tunesien. Das Land dafür haben wir schon vor Jahren gekauft, denn ich plante – wenn ich pensioniert sein würde –, Lotti zu helfen, ihren Herzenswunsch eines Tages zu realisieren. Die Vorhersehung brachte dann nicht Tunesien – was rückblickend gesehen wohl auch richtig ist, denn in Tunesien gibt es inzwischen schon etliche staatliche Altersheime –, sondern sie brachte eben Abidjan. Das Leiden der von Aids gebeutelten armen Bevölkerung liess Lottis Berufung geradezu explodieren. Die Idee eines Ambulatoriums in einem Slum kam ganz selbstverständlich, und eines Tages sagte sie zu mir: ‹Ich habe einen Ort gefunden, wo ich gebraucht werde. Er heisst Adjouffou. Bitte hilf mir.›
Gemeinsam suchten wir ein Stück Land. Ich organisierte Schiffscontainer, deren Transport und Montage. Liess Fundamente betonieren, redete mit Direktoren von in Abidjan ansässigen Grossfirmen, damit ein wenig Geld floss. Half Baupersonal rekrutieren und überzeugte die Slumbewohner, die anfänglich alles andere als begeistert waren, dass auf ‹ihrem› Land Mauern hochgezogen wurden, davon, dass es ihr ganz persönliches Glück ist, neben einem Ambulatorium zu leben. Nicht nur, weil die medizinische Versorgung der ganzen Familie gewährleistet wird, sondern auch, weil all die angereisten Patienten den Absatz der von den Slumbewohnern angebotenen Waren steigern. Zu sehen, mitzuerleben, wie sich Lottis Lebenstraum realisierte, war wunderbar.
Ich wusste schon immer, dass der direkte Kontakt mit Menschen, vor allem mit kranken Menschen, Lotti mehr brachte, als am Swimmingpool zu sitzen, Damenkränzchen abzuhalten und Weisswein zu schlürfen. Was ich nicht ahnen konnte, war, wie radikal Lotti – zumindest anfänglich – an die Sache herangehen würde. Die Armut, die sie so hautnah erlebte, führte dazu, dass sie sich von der Gesellschaft zurückzog. Keinen Aperitif mehr, keinen Smalltalk, kein festliches Essen. Und schliesslich auch kein Zurück nach Kairo mehr.
Kurz nachdem das Ambulatorium eröffnet war, erhielten wir von Nestlé die Mitteilung, dass unser lang gehegter Wunsch, nach Ägypten zurückzukehren, in Erfüllung gehe. Eine Mitteilung, die uns schlagartig bewusst machte, wie sehr wir unseren Herzenswunsch, zurück nach Kairo zu können, ganz einfach vergessen hatten. Die Erkenntnis, dass jetzt etwas kam, das wir mal so dringend gewollt hatten und nun nicht mehr haben wollten, nahm uns den Atem, liess ein Vakuum entstehen. Ich realisierte, dass nicht nur Lotti, sondern auch ich und die Kinder in der Elfenbeinküste bleiben wollten.
Ich redete mit Nestlé, aber es war nichts mehr zu machen. Sie brauchten mich als einzigen Arabisch sprechenden Direktor für den Aufbau der neuen Firma. Also reiste ich ab, Lotti und die Kinder blieben noch sechs Monate, damit die beiden Älteren die Matura in Abidjan fertig machen konnten.
Während dieser Zeit fragte ich Lotti oft, wie es weitergehe. Sie beruhigte mich mit dem Satz: ‹Mach dir keine Sorgen, Aziz, wir werden eine Lösung finden.› Doch – und das spürte ich instinktiv – Lotti geriet von Monat zu Monat in ein grösseres Dilemma. Es war nicht nur dieses Ahnen, dass es eines Tages zu einem Entscheid gegen das Familienleben oder gegen Adjouffou kommen musste, es war vor allem die Tatsache, dass sie sich mit der Armut und dem Leid der Menschen so sehr identifizierte, dass sie alles, was auch nur im Geringsten mit Komfort oder Reichtum oder Genuss oder Entspannung zu tun hatte, weit von sich wies. Ich sagte ihr einmal: ‹Lotti, die Welt wird nicht besser, wenn alle Menschen arm sind. Im Gegenteil! Es muss Menschen geben, die Geld verdienen, damit sie den Menschen, die keins haben, etwas davon abgeben können. Es sind Menschen, die es gut haben im Leben, die dir helfen können zu helfen.› Damals wollte sie davon allerdings nichts hören, ich glaube, sie haderte intensiv mit Gott.
Lotti machte eine tief greifende innere Revolte durch. Schon nur der
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