Madame Lotti
Vorschlag, in ein feines Restaurant essen zu gehen, wurde mit Verachtung gestraft. Lotti suchte Unterstützung bei uns, wollte von uns hören, wie schrecklich wir die Welt finden, und hätte es gern gesehen, wir hätten – genau wie sie damals – von Suppe und Brot gelebt. Dann kam schliesslich der Tag, an welchem Selim und Sonia ihre Matura bestanden hatten und Lotti und die Kinder von Abidjan nach Kairo zogen.
Eine Lösung zeichnete sich damals in der Idee ab, dass Lotti zwei Monate bei uns in Kairo und einen Monat bei ihren Kranken in Adjouffou verbringen würde. Doch bevor wir diese Idee überhaupt auf ihre Tauglichkeit hätten prüfen können, war schon klar, dass sie nicht in Frage kam. Lotti war in Kairo vom ersten Tag an unglücklich. Alles Leben in ihr verschwand. Ihre Energie reichte gerade noch für stundenlange Telefongespräche nach Adjouffou, bei welchen sie sich erkundigte, wie es lief, und erfuhr, dass es eben nicht lief. Das Feuer in ihren Augen erlosch. Die Kinder begriffen schnell, dass die Mutter sich nach Adjouffou verzehrte. Sie reagierten abweisend, verärgert, waren wütend auf sie. Der Einzige, der Lotti in ihrer Zerrissenheit verstehen, der sie in ihrer Revolte ertragen konnte, war ich.
Ich kenne meine Frau sehr gut. Kenne ihren Charakter, ihren Geist, ihr Herz, ihre Seele. Ich wusste, dass diese Revolte früher oder später aufhören und sie sich mit Gott und der Welt wieder aussöhnen würde. Ich wusste, dass sie Zeit brauchte, ich wusste, dass es dauern würde. Ich versuchte, Geduld aufzubringen, und heute, heute ist es tatsächlich so, dass sie ein feines Essen bei einem guten Glas Rotwein wieder geniessen kann. Aber das ist heute, damals gingen wir alle, auch Lotti, durch die Hölle. Wie schlimm es für die Familie werden würde, war klar, als ich – kaum waren wir alle in Kairo eingezogen – mit Flugtickets für unsere Sommerferien nach Hause kam. Lotti nahm sie in die Hand, begann zu weinen, schaute mich an, fragte: ‹Aziz, was soll ich in den Ferien, während meine Leute in Adjouffou sterben?›
Sie bat mich, nicht mitkommen zu müssen, auch, weil sie uns mit ihren Tränen die Ferien sowieso und gründlich vermiesen würde. Ich handelte, tauschte ihr Ticket in eins nach Abidjan um und drückte es ihr mit den Worten in die Hand: ‹Geh, wenn du glaubst, gehen zu müssen, aber vergiss nie: Die Tür hier ist immer offen.› Eine Woche später traten die Kinder und ich unsere Ferien an – unsere ersten ohne Lotti.
In der darauf folgenden Zeit kam Lotti alle paar Wochen nach Kairo. Doch wenn sie hier war, war sie todunglücklich. Also reiste sie wieder nach Abidjan. Leider ging es ihr aber auch dort nicht viel besser. Sie litt, ich litt, die Kinder litten erst recht. Ich habe damals mehr als zwanzig Kilo abgenommen, habe Lotti vermisst, vor allem dann, wenn sie hier bei mir war. In der Nacht von ihrem Weinen aufzuwachen, kostete mich genauso viel Energie wie die Erkenntnis, dass die Kinder in ständigem Streit mit ihr lagen. Durch ihre Unzufriedenheit schimpfte Lotti viel, sie fragte mich: ‹Was soll ich hier? Braucht ihr mich? Du gehst am Morgen ins Büro, kommst erst abends nach Hause. Selim studiert in Paris. Sonia wird bald nach Lausanne in die Hotelfachschule gehen, und Sarah ist in der Schule, und wenn sie nicht in der Schule ist, dann ist sie bei einer Freundin, damit sie meine Launen nicht ertragen muss.› In ihrer Depression liess Lotti bald niemanden mehr an sich heran. Mit ansehen zu müssen, wie sehr die Kinder litten, brach mir oft schier das Herz. Aber es waren auch die Kinder, die mich damals am Leben hielten. Nicht zuletzt ihretwegen bat ich Lotti irgendwann, nur noch dann zu kommen, wenn sie auch wirklich kommen wollte. Lotti schaute mich gross an, fragte, ob ich es ernst meine, und ich sagte ihr: ‹Ja, denn ich will nicht, dass aus meiner Liebe zu dir Hass wird.›
Es wäre für mich der schlimmste aller Fälle gewesen, wenn ich eine Frau, die so intensiv und selbstverständlich Liebe verteilt, hätte hassen müssen. Wir einigten uns darauf, dass wir versuchen würden, uns mindestens viermal im Jahr zu sehen. Lotti ging, und es war an mir, den Kindern zu erklären, dass ihre Mutter nichts Falsches tut, wenn sie nur noch auf Stippvisite nach Kairo kommt, sie davon zu überzeugen, dass ihre Mutter nicht gegen sie, sondern für eine Sache handelt und dass sie uns über alles liebt. Ich versuchte ihnen verständlich zu machen, dass Lotti, wenn sie depressiv in
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