Madame Zhou und der Fahrradfriseur
im urbanen Peking immer mehr Menschen aus ihren Lebenszusammenhängen herausgerissen und umgesiedelt werden. Diese Menschen retten sich dann aus der Uniformität der neuen Wohnsiedlungen zu diesen Freizeitinseln, auf denen sich jeder zumindest mit seinem Spiel als Individuum aus der Masse herausheben kann.«
Im Sommer hat Wang Shugang die 18 Figuren anlässlich des China-Besuches von Bundespräsident Horst Köhler im Garten der Deutschen Botschaft gezeigt. Das Protokoll für den Bundespräsidenten sah »zwei Minuten Anschauen der Skulpturen-Gruppe des Chinesen Wang Shugang« vor. Aber der Bundespräsident hat sie über zehn Minuten betrachtet und mit Wang Shugang gesprochen.
Julia wechselt das Thema, denn ich wäre bestimmt nicht gekommen,um über Skulpturen zu sprechen, sondern um die Geschichte mit dem Unfall des Mannes ihrer Ayi zu hören.
»Ja, darüber wollte ich mit Ihnen reden. Doch wahrscheinlich haben Sie mir schon alles gesagt.«
Sie nickt und bestätigt, dass der Mann zwar in der kommunalen medizinischen Praxis geröntgt worden ist, aber ohne ihr Geld, die 800 Euro, nicht operiert worden wäre. »Wer zu arm ist und sich kein Geld borgen kann, bleibt dann ein Krüppel.«
Das ist ein soziales Problem. Doch im Fall der Ayi sei es erst durch das zweite soziale Problem ausgelöst worden: den Abriss der zum Teil dörflichen Wohnsiedlung. Das Atelier von Wang Shugang befand sich in einer Siedlung, in der 3000 Menschen lebten. »Fast alle bauten noch Kartoffeln und Mais und Gemüse in ihren Gärten an. Manche hielten auch Schweine und Hühner.«
Inzwischen hat man dort mit dem Abriss begonnen, um Platz für Hochhäuser und Gewerbegebiete zu schaffen.
»Aber nicht die Hauseigentümer, sondern die rechtlosen Mieter sind diejenigen, die bei diesem Abriss am meisten leiden müssen. Die Hauseigentümer werden entschädigt. Je größer ihr Haus ist, je mehr Fenster drin sind, umso höher ist die Abfindung, die der Staat zahlt. Wenn neue Ziegelsteine für einen Anbau vor dem Haus liegen, weiß man, dass es bald abgerissen wird und der Eigentümer es zuvor noch schnell vergrößern will. Nur die Mieter, oft Wanderarbeiter aus den Dörfern, haben dann über Nacht keine Bleibe mehr. Und in Peking auch kein Recht auf eine andere Behausung.«
Ich frage Wang Shugang, ob er auch diese sozialen chinesischen Probleme künstlerisch gestaltet.
Er schüttelt den Kopf.
»1979 besuchte ich als 19-Jähriger in Peking eine Ausstellung, in der ich zum ersten Mal Werke von Käthe Kollwitz gesehen habe. Diese Künstlerin hat das Leid der Armen, der Unterdrückten, der Trauernden und Gedemütigten sehr realistisch und den Betrachter emotional berührend, dargestellt. Zu ihrer Zeit rüttelten solche Themen die Menschen noch auf. Doch heute ist die realistische künstlerische Darstellung von sozialen Nöten nicht mehr interessant. Wen könnte sie in unserem Medienzeitalter noch aufschrecken?«
Geheimnisvoller Laden im Hutong
Er meint, dass nur die vielschichtige Rezeption von Kunst, also das, was nicht eindeutig dargestellt ist und deshalb widersprüchlich erscheint, durch die verschiedenen Empfindungen, die sie beim Betrachter auslöst, noch eine Wirkung hinterlassen kann.
Aus Glasfiber hat Wang Shugang acht auf dem Bodenhockende Figuren geformt. Sie unterscheiden sich weder in der Größe, der Farbe, der Haltung noch im Aussehen. Diese für China typische Gruppen-Skulptur der in einem Kreis hockenden Figuren – sie werden inzwischen in Vancouver auf einer Parkwiese von Kanadiern umarmt und fotografiert – nennt er »Meeting«. Bei der Bad Doberaner Ausstellung zum G8-Gipfel in Heiligendamm interpretierten die Kunstwissenschaftler die 8 (!) Chinesen als ein Symbol für den »Friedenswillen«. In China dagegen betrachtete man sie als Darstellung der gleichgeschalteten chinesischen Masse und der Frage nach dem Individuellen. »Man erkannte in der hockenden Gruppe den Wunsch der Menschen – und nicht nur der Menschen in China – immer als Individuen wahrgenommen und respektiert zu werden.«
Die »Meeting-Gruppe« sei also wie seine anderen Skulpturen und Installationen keine eindeutige realistische Abbildung, sondern Symbolik.
»Kunst ist Kunst. Und Leben ist Leben.«
Ich frage Wang Shugang nach seinem Leben. Er sagt, das könnte ich in jedem Ausstellungskatalog nachlesen. Geboren 1960 in Peking. 1980 bis 1985 Studium an der Pekinger Kunsthochschule. 1985 bis 1986 Arbeit im Büro für Städteplanung in Peking. 1989 bis 2000
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