Maddie - Der Widerstand geht weiter (German Edition)
auf Dauer ziemlich einsam werden.«
Ich spürte seinen Blick auf mir ruhen.
»Also, ich kenne dich ja erst ein paar Minuten, aber du kommst mir wie jemand vor, der Gesellschaft mag.«
Er räusperte sich wieder und wechselte zu einem betont professionellen Tonfall. »Zur ersten Therapiesitzung werden die Patienten immer begleitet, damit sie sich eingewöhnen können«, informierte er mich. Die Türen glitten auf und wir betraten einen hell erleuchteten Gang, der dem vierten Stock zum Verwechseln ähnlich sah: ein schmaler Schlauch mit Türen in regelmäßigen Abständen.
»Wohnt hier auch jemand?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf. »Das sind fast alles Therapieräume«, erklärte er. Unsere Schuhe schlurften über das glänzende Linoleum. Er blieb vor einem Raum stehen, über dessen Eingang ein Schild verkündete: ERTRÄUME DEINEN WEG . Der Junge hielt mir die Tür auf, aber ich zögerte.
»Dir wird nichts passieren«, versicherte er mir. Also trat ich in den Raum. Er war völlig leer und bestand nur aus weißen Wänden. Doch kaum war die Tür hinter mir zugeklickt, leuchteten die Wandschirme auf. Bei dem Anblick schnappte ich nach Luft. Die Welt um mich herum – die Wände, die Decke, der Fußboden – hatten sich in einen Wald verwandelt. Hohe Fichten umgaben mich, ihre dicht benadelten Äste kletterten leiterartig bis in den Himmel. Ein kühler Windhauch strich über mein Gesicht. Schimmernd grüne Farnwedel bedeckten den Boden. Felsen und umgestürzte Bäume waren von einer dicken Moosschicht bewachsen, die wie ein weiches Fell aussah. Weit oben leuchtete blauer Himmel durch das Schattenspiel der Äste. Alles sah aus, als sei ich mitten in ein Märchen spaziert.
Ich folgte einem Pfad, der sich ganz weich und wirklich anfühlte. Ab und zu knirschten Kiesel unter meinen Sandalen. Ein träger Bach plätscherte neben mir her, und ich beugte mich nieder, um dem Wasser zuzuschauen, das über Felsen und Sand glitt. Langsam entspannte ich mich. Vielleicht waren die Umerziehungscenter gar nicht so schlimm. Vielleicht war ihr Zweck nicht, die Schüler durch Angst zur Anpassung zu zwingen, sondern die digitale Welt so verführerisch zu machen, dass sie freiwillig blieben.
Welches Gefühl wirkte wohl stärker auf den menschlichen Geist: Furcht oder Verlangen?
Ich tauchte die Hand in den plätschernden Bach und er floss eiskalt und erfrischend über meine Finger. Gerade wollte ich die Hand zum Mund führen, als könnte ich das virtuelle Wasser schmecken, da wurde der Traum unterbrochen. Die Tür öffnete sich mechanisch mit einem Summen.
Ich stand auf und eine Frau kam herein. Sie war groß und schlank, hatte lange rote Haare, die ihr glatt über die Schultern fielen, und trug einen weißen Arztkittel. Unter einen Arm hatte sie einen Flipscreen geklemmt. Sie schaute sich im Wald um und lächelte.
»Ungewöhnliche Wahl«, stellte sie fest und ihre Stimme hallte durch den leeren Raum.
»Was für eine Wahl?«, fragte ich und betrachtete ebenfalls die Landschaft um mich herum.
Dann fiel die Tür zu und die Szene änderte sich. Der urwüchsige Wald verwandelte sich in langweilig braun gestrichene Wände, beigefarbene Bodenfliesen und eine weiße Betondecke mit greller Beleuchtung. Alle meine Sinne zuckten zurück. Es fühlte sich an, als habe man mir Schokopralinen auf einem Silbertablett angeboten, nur um es plötzlich wieder wegzuziehen und mich mit labberigem Toast abzuspeisen.
»Wie haben Sie das gemacht?«, fragte ich.
»Der Raum besteht aus so genannten Imaginärschirmen«, erklärte sie und zeigte auf eine der Wände. »Sie zeigen, was immer du dir wünschst. Beim Hereinkommen hast du versucht, dich zu entspannen, also hat der Computer eine Szene kreiert, die dieser Stimmung entsprach.« Ich blinzelte die Wände an und konnte kaum glauben, dass sie mir eben noch einen perfekten Urwald vorgegaukelt hatten. Die Frau kam durch das Zimmer auf mich zu und ihre hohen Absätze klickten laut auf dem Fliesenfußboden.
»Ich bin Dr. Stevenson«, stellte sie sich vor. Sie drückte auf eine Wandfläche, aus der sich ein viereckiger Sitz entfaltete, der nun rechtwinkelig von der Wand abstand.
»Setz dich«, sagte sie. Als ich den Raum durchquerte, schlurften meine Sandalen bei jedem Schritt. Ich nahm Platz und sie hielt mir ihre Hand entgegen. Zögernd legte ich meine hinein, damit sie meine Fingerabdrücke scannen konnte. Ihr Griff war hart und kalt. Sie schaute auf den Wandschirm, wo gleich darauf mein Name in
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