Madita
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Gefühl. Und es ist auch ein schönes Gefühl, nicht mehr traurig zu sein und an den Ausflug denken zu müssen.
»Berge sind sicher ganz nett«, sagt sie zu Lisabet, »aber vom Schuppendach haben wir bestimmt eine viel schönere Aussicht gehabt.«
»Apselut«, sagt Lisabet. »Wir haben ja Nilssons in die Küche geguckt.«
Madita und Lisabet stecken sich die Ringe an, sie spreizen die Finger und kommen sich vor wie zwei feine Damen.
»Mein Stein sieht aus wie ein Tropfen Blut«, sagt Madita. »Und deiner, Lisabet?«
»Meiner sieht aus wie blau«, sagt Lisabet, und das stimmt ja auch.
Eine gute Weile vergleichen sie die Ringe. Sie halten die Hände gegeneinander und überlegen lange, welcher am
schönsten ist. Schließlich stellt sich heraus, daß Madita rote Steine am schönsten findet, weil sie wie Blutstropfen aussehen, und Lisabet blaue Steine, weil sie blau sind.
»Ach, ich hab ja noch gar nicht Großmamas Brief gelesen!«
sagt Madita plötzlich, und rasch reißt sie den Umschlag auf und liest. Daß Madita aus dem Gekritzel herauskriegt, was Großmama will, begreift Lisabet nicht.
»Kannst du das wirklich?« fragt sie.
Natürlich kann Madita das. Nachdem sie sich durch den Brief buchstabiert hat, weiß sie genau, was Großmama will. Sie will, daß Madita mit dem Fliegen ein für allemal Schluß macht und daß sie das eine von den beiden Schächtelchen und die Hälfte der Perlen im Beutel Lisabet abgibt.
»Da kannst du mal sehen, wie lieb ich bin, Lisabet«, sagt Madita. »Ich hab dir die Schachtel schon gegeben, als ich den Brief noch gar nicht gelesen hatte.«
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»Ja, da bist du lieb gewesen«, sagt Lisabet und greift nach dem Perlenbeutel. »Her mit den Perlen! Ich will mir jetzt eine Kette machen!«
Aber Madita reißt ihr den Perlenbeutel fort.
»Finger weg!« sagt sie. »Warte gefälligst, bis ich Zeit habe, sie zu teilen.«
»Jetzt hast du Zeit«, sagt Lisabet.
»Hab ich nicht«, sagt Madita.
Sie greift nach der Karaffe, die auf dem Tischchen neben dem Bett steht, und gießt sich ein Glas Wasser ein. Dann trinkt sie langsam mit kleinen Schlucken, bis das ganze Glas leer ist.
Und dann fängt sie an, das Seidenpapier glattzustreichen und ordentlich zusammenzufalten. Sie streicht und faltet, und jeder kann sehen, daß sie jetzt etwas anderes zu tun hat als Perlen abzuzählen. Derweil denkt sie nach. So ein Schächtelchen ist doch eigentlich viel hübscher als ein Beutel mit Perlen, denkt Madita, und doch fiel es ihr leichter, Lisabet das Schächtelchen zu geben, als die Perlen mit ihr zu teilen. Madita spürt genau, daß sie den ganzen Beutel für sich behalten möchte, aber sie weiß auch, daß Lisabet sie sofort bei Mama verpetzt, wenn sie keine Perlen abbekommt. Also teilen muß Madita so oder so.
Sie legt das Seidenpapier so umständlich und sorgfältig wie möglich in den Karton zurück, und dann sagt sie mit einem Seufzer: »So, jetzt habe ich Zeit.«
Sie schüttet die Perlen auf ein Tablett und teilt sie gerecht in zwei Häufchen. Eine große, gelbe Perle aber bleibt übrig, und die schenkt sie Lisabet.
»Da, die kannst du kriegen«, sagt sie, denn geizig ist Madita höchstens ab und zu mal ein paar Augenblicke lang.
Dann reihen sich Madita und Lisabet Halsketten auf, und nun 58
sind sie noch feiner als vorher. Sie spielen mit der Babypuppe und baden sie in der kleinen Badewanne und waschen sie mit dem winzigen Stück Seife, das so gut riecht. Dann machen sie ihr ein Bett in einer Zigarrenkiste, und dann bekommt sie ihr Fläschchen mit dem Sauger.
»Eigentlich ist ja heute ein trauriger Tag«, sagt Madita, »aber eigentlich ist er auch ganz schön.«
Lisabet stimmt ihr bei.
»Ja, es ist ein ganz schöner, trauriger Tag«, sagt sie.
Aber schließlich hat Lisabet genug von allem, sie will hinaus.
»Ich muß mal ein bißchen mit Sasso rausgehen«, sagt sie, und schwups ist sie verschwunden.
Allein spielen macht keinen Spaß. Madita langweilt sich und weiß nicht, was sie anfangen soll.
Aber da kommt Papa zum Mittagessen nach Hause. Erschaut
einen Augenblick ins Kinderzimmer hinein.
»Na, wie geht es?« fragt er.
»Famos«, sagt Madita. »Ich weiß nur nicht, was ich machen soll.«
»Lies doch ein bißchen im Tageblatt«, sagt Papa und zieht eine Zeitung aus der Tasche. »Und hier habe ich dir einen Zeichenblock mitgebracht, mal was Hübsches für mich. Das
schenkst du mir dann abends, wenn ich nach Hause komme.«
Madita hat so schnell lesen gelernt, daß selbst die
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