Madonna
würde er Ruhe haben, genau wie Kilian damals seine Ruhe gefunden hatte.
Er hockte sich hin. Seine Fingerspitzen berührten das Wasser, zeichneten feine, ständig größer werdende Kreise darauf. Ein Schwan,der sich offenbar einen Leckerbissen erhoffte, kam näher. Sein weißes Gefieder leuchtete im Mondlicht fast überirdisch. Es war gesträubt, der Hals zu einem eleganten Boden geschlungen.
»Wie schön du bist!«, murmelte Tobias und zog die Finger aus dem Wasser. Sein Blick wanderte in die Höhe, zu den Wolken, die in schnellem Flug vor dem Mond dahinzogen, und kurz glaubte er, in ihnen ein Abbild des Schwans zu entdecken. Die Weiden neben dem Henkerssteg schienen ihm mit ihren langen, hängenden Ästen zuzuwinken.
Tobias richtete sich auf.
Fort war die Sehnsucht. Fort der Wunsch, in das schwarze Wasser zu gehen und darin zu versinken. Er tat einen Schritt rückwärts. Die feuchte Erde schmatzte unter seinen Füßen, saugte sich an ihnen fest, als wollte sie ihn nicht fortlassen.
Doch er wandte sich um und verließ diesen Ort. Es war spät geworden.
Er musste zum Fischerhaus zurück. Bestimmt machte Katharina sich schon längst Sorgen um ihn.
Als er um die Hausecke bog und auf das große Haus mit den geschnitzten Balken zuging, fiel ihm eine Frau mit einer großen Flügelhaube auf, die nebenan gerade eine neue Fackel aufsteckte. Und er sah einen Mann in Pelzmantel und Hut und mit dickem Bauch, der auf diese Frau zusteuerte.
»Gute Frau!«, sprach er sie an. Er hatte eine unangenehme Stimme, und etwas war an ihm, das Tobias innehalten und in die Schatten zurückweichen ließ.
»Was wollt Ihr?«, fragte die Frau. Die ausgebrannte Fackel hing an ihrer Seite nach unten, und die Frau krampfte die Finger darum, als wolle sie sie als Prügel benutzen. Erst, als der Mann näher trat und das Licht der anderen Fackel auf seinem Pelzkragen schimmerte, entspannte sie sich ein wenig.
Tobias wunderte sich darüber, wie blind die Leute oft waren. Sie sahen das Böse in einem Menschen nur schwer, wenn dieser teure Kleidung trug. Zitternd drückte er sich tiefer in die Schatten. Wenn die beiden nur endlich gehen würden, damit er ins Fischerhaus zurückkehren konnte!
Der Mann stellte sich der Frau vor. »Ich bin Bürgermeister Silberschläger. Ich bin im Auftrag des Stadtrichters hier, um Euch ein paar Fragen zu stellen«, sagte er.
»Fragt!« Die Frau nickte missmutig. Es war kalt, und sie hatte nur ein einfaches Kleid an. Tobias konnte sich vorstellen, dass sie fror, ihm selbst war die Kälte längst bis in die Knochen gedrungen.
»Eure Nachbarin, Frau Jacob«, begann der Bürgermeister. »Könnt Ihr mir etwas über sie sagen?«
Jetzt erschien ein Funkeln in den Augen der Frau. »Kommt drauf an, was Ihr hören wollt.«
»Nun, es geht mir um Unregelmäßigkeiten, Dinge, die Ihr gesehen oder gehört habt, die … sagen wir, Euch beunruhigen.«
»Wenn Ihr das Hurenhaus meint …«, sagte die Frau gedehnt, und plötzlich wirkte sie sehr viel begieriger darauf, mit Silberschläger zu reden, als noch einen Moment zuvor.
Silberschläger nickte und wartete.
Die Frau deutete auf Katharinas Haus. »Lauter Weibsbilder hält sie darin, die kein ehrbarer Mensch auch nur in seine Nähe lassen würde. Manchmal höre ich nachts die Irre kichern, ich sage Euch, man könnte glatt Angst kriegen, dass der Teufel mit denen im Bunde steckt!«
»Hexerei!« Silberschläger verschränkte die Arme vor der Brust, als komme das für ihn völlig überraschend. Tobias konnte jedoch den gierigen Ausdruck in seiner Miene sehen. Genau so etwas hatte Silberschläger erwartet, das war ganz deutlich. Dennoch sagte er: »Mir geht es eigentlich mehr um irdische Verbrechen. Ist Euch in der letzten Zeit etwas aufgefallen, das Frau Jacob mit den Morden in der Stadt in Verbindung bringen könnte?«
Tobias blinzelte irritiert. Es beunruhigte ihn oft, wenn Menschen etwas anderes sagten, als ihre Mienen oder ihre Körper ausdrückten. Dieser Silberschläger war eindeutig zufrieden damit gewesen, dass die Frau den Teufel angesprochen hatte. Warum nur behauptete er das Gegenteil?
»Die Dolchmorde …« Die Frau erschrak. Ihre Augen weiteten sich, und sie schlug die Hand vor den Mund. Aber sie konnte das Wort nicht zurück in ihre Kehle stopfen. Hastig sah sie sich um, und Tobias fragte sich, was genau sie fürchtete. »Ich habe aber nichts gesagt!«, wisperte sie Silberschläger zu. »Man weiß ja schließlich nie, wo diesesGesindel überall lauert. Die
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