Madonna
Egberts Tod nicht erklären ließ. Immerhin hatte er ihr ein kleines Vermögen und ein stattliches Haus hinterlassen, und Katharina nutzte beides, um das zu tun, was sie nach ihrer eigenen Aussage auf der ganzen Welt am liebsten tat: Menschen zu heilen. Und trotzdem war da dieser Ausdruck in ihren Augen. Manchmal kam er Donatus vor wie blanke Verzweiflung.
Er schaute auf und musterte Katharina, bevor er weitersprach. »Ich habe mit den Patientinnen über ihn geredet.« Er grinste entschuldigend. »Ich weiß, dass du nicht gern über ihn sprichst, aber ich bin, ehrlich gesagt, neugierig.«
Katharina antwortete nicht sofort, und als sie sprach, war ihre Stimme sehr sanft. »Ich frage dich auch nicht, warum sie dich aus Heilig-Geist rausgeworfen haben.«
Donatus schluckte. Rauswurf. Beinahe hätte er bitter aufgelacht. Es war mehr gewesen als ein Rauswurf. Fortgejagt hatten sie ihn wie einen räudigen Hund. Er versuchte, sich gegen die Last der Erinnerungen zur Wehr zu setzen, aber es gelang ihm nicht. Wie eine Sturzflut brachen sie über ihn herein und ließen ihn zurück in seine eigene Vergangenheit trudeln …»Du glaubst gar nicht, wie leid mir das alles tut!«
Dr. Spindlers Gesicht war in unzählige Falten zersplittert. Der kalte Februarwind, der durch die Gassen Nürnbergs heulte und sich in der Ecke fing, die die Kapelle und das Pfründnerinnenhaus von Heilig-Geist bildeten, wehte das lange Priestergewand gegen seine Beine. Donatus konnte ihn frösteln sehen, doch Spindler rührte sich nicht. Dafür war Donatus ihm dankbar. Ein paar Schneeflocken fielen aus den grauen Wolken und blieben auf dem kalten Pflaster liegen. Donatus’ Blick wanderte die schmale Gasse entlang. Er wusste, dass sie ein Stück weiter in eine breitere Straße mündete, und dennoch kam sie ihm vor wie eine Sackgasse.
»Hier!« Spindler drückte ihm etwas in die Hand. Es war ein kleiner Beutel mit Münzen. »Viel ist es nicht, aber ich hoffe, es reicht, bis du eine neue Anstellung gefunden hast.«
Hinter ihm wurden Schritte laut. Spindler drehte sich um.
Ein Mann näherte sich, auch sein Gesicht lag in Falten, doch bei ihm waren nicht Betroffenheit und Trauer der Grund dafür, sondern Zorn und blanke Verachtung. Er hatte die Ärmel seines weitfallenden Leinenhemdes bis zu den Oberarmen aufgekrempelt, und Donatus konnte die Adern sehen, die sich über seine mächtigen Muskeln zogen. So schnell er konnte, schlug Donatus den Blick nieder. Er hatte bereits genug Scherereien.
Konrad Rotgerber war der Spitalmeister, der vom Stadtrat eingesetzte Leiter von Heilig-Geist. Er war zuständig dafür, wichtige Entscheidungen für das Spital zu treffen. Ob ein neuer Bader eingestellt werden sollte zum Beispiel.
Oder ob man den alten rauswerfen sollte.
Donatus wich zurück, als Rotgerber jetzt vor ihm stehen blieb und ihn mit solcher Verachtung musterte, dass er sich vorkam wie eine Wanze.
»Bist du immer noch nicht weg?« Die Stimme des Spitalmeisters war tief und klang wie ein Knurren.
»So habt doch ein Einsehen …«, setzte Spindler an, aber Rotgerber unterbrach ihn mit einer harschen Handbewegung.
»Ihr mögt es für Eure Pflicht halten, nachsichtig zu sein mit den Sündern, Vater. Aber meine Pflicht ist es, das Spital vor Schaden zu bewahren.«
Beim Wort »Schaden« hob Donatus den Blick. »Ihr macht einenFehler.« Er flüsterte. Noch immer war da diese Wut in ihm, dieser Wunsch, herauszuschreien, was für Ungeheuerlichkeiten im Spital stattfanden. Doch er verschloss die Worte tief in seinem Innersten. Längst hatte er begriffen, dass er hier nichts erreichen konnte.
Rotgerber zuckte die Achseln. »Das denke ich nicht.« Mit dem Kinn wies er auf die schmale Gasse. »Geh jetzt, sonst lasse ich dich davonprügeln wie einen Hund.«
Die Falten um Spindlers Mund vertieften sich noch. »Ihr …«
Donatus legte ihm eine Hand auf den Unterarm. »Lasst gut sein, Pater.« Dann trat er einen Schritt rückwärts. »Ich werde Euch nicht mehr zur Last fallen«, sagte er zu Rotgerber.
Der Mann nickte zufrieden. Er verschränkte die Arme vor der Brust und schwieg.
Einen sehr kurzen Moment gestattete Donatus sich noch, auf ein Wunder zu hoffen, darauf, dass die Heilige Jungfrau Maria das Herz des Spitalmeisters erweiche. Doch nichts dergleichen geschah, und so wandte Donatus sich schließlich ab.
Und verließ Heilig-Geist. Wie ein armer Sünder.
In seiner Erinnerung hatten sich diese Augenblicke zu einem einzigen Moment der Scham verdichtet.
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